Das Kristiansand Kammermusikfestival ist ein schönes Beispiel wie das Kulturleben in Norwegen wächst
Alles riecht noch neu im Kammermusiksaal des Jugendkulturschule Knuden in Kristiansand, Norwegen. Genauso neu wie das Festival, dessen erste Ausgabe hier eröffnet wird. Zwei junge, kreative Frauen sahen in der südlichsten Stadt Norwegens die Chance, sich einen Traum zu erfüllen: Cellistin Sandra Lied Haga und Anne Camilla Furre Thommesen, Bratschistin im Sinfonieorchester Kristiansand, haben hier in kürzester Zeit das Kristiansand Kammermusikfestival gegründet, geplant und durchgeführt. Die Pilotausgabe startete am ersten Septemberwochenende 2023, drei Konzerte an drei verschiedenen Spielstätten mit nicht viel mehr als einer Handvoll Musiker – und auch das Publikum ist schon da.
Wie alles an dem Projekt soll es noch wachsen. Die Premiere ist zugleich ein Probelauf, Festival im Miniformat. Die Kommune stieg schneller als gedacht in die Förderung ein, gerade zwei Monate blieb Zeit, das erste Festival zu planen. Erst gut zwei Wochen vor der Eröffnung ging die Webseite online.
Die Organisation übernehmen die beiden Musikerinnen selbst, Hilfe bekommen sie aus der Familie: Der Bruder macht Fotos und Videos für Social Media, die Mama bietet sich für Fahrdienste an. Pianist Håvard Gimse, der junge Geiger Ludvig Gudim und Bratscher Eivind Ringstad sind langjährige Freunde von Sandra Lied Haga. Hinzu kommen die armenische Musikstudentin Riselda Rreka (Violine) und ganz junge Mitstreiter der Jugendkulturschule, an der während des Festivals auch Meisterklassen mit den Künstlern stattfinden. Die Tage sind eng gepackt, die Konzerte mitreißend. Egal ob mit Beethovens Sonate für Violine und Klavier in F-Dur, Dvoraks Klavierquintett in A-Dur oder mit Brahms‘ Klavierquartett Nr. 3 in c-Moll, die Musiker wissen mit packenden Interpretationen zu verführen, lassen die Kammermusik im kleinen Saal der Jugendkulturschule, der wunderschönen Domkirche Kristiansand oder auf dem alten Herrenhof im Stadtteil Gimle in warmen Klangfarben funkeln und feiern die Kompositionen der großen Meister im ebenso präzisen wie energievollem Zusammenspiel. Die Musik ist hochklassig, das Programm klug gewählt. Die Jugend wird gleich zur Eröffnung eingebunden, der Altersdurchschnitt des Publikums wirkt dementsprechend jung.
Kristiansand, die Geburtsstadt der norwegischen Kronprinzessin Mette Marit, zählt heute gut 100.000 Einwohner und ist eigentlich keine typische Kulturstadt. Aufgrund der strategisch günstigen Nähe zum Skagerrak und zu Dänemark ist die Stadt 1641 vom dänisch-norwegischen König Christian IV. als Handelsmittelpunkt und militärischer Stützpunkt gegründet worden, 1940 begann die deutsche Wehrmacht von hier mit der Besatzung Norwegens. Zu den wichtigsten Industriebetrieben in Kristiansand zählen das Nickelwerk, ein Produzent für Elektrochemie sowie markführende Unternehmen im Bereich der Offshore-Öl- und Gasförderung.
Das Kristiansand Sinfonieorchester ist 2003 gegründet und damit das jüngste in Norwegen. Zeitgleich begannen im Land der Fjorde auch die Kammermusikfestivals aus dem Boden zu sprießen: Seit 2004 gibt es ein Kammermusikfestival auf den Lofoten, seit 2009 das Horten Kammermusikfest, das Hemsing Festival wurde 2013 gegründet, das in Rosendal 2016. „Ich habe Glück, denn in Kristiansand gab es bislang noch keines“, sagt Sandra Lied Haga, die für ihr junges Festival noch viele Ideen hätte. Das Moritzburg Festival in Dresden, wo sie im August selbst spielte, ist eines ihrer Vorbilder. Klein und familiär anfangen, dann langsam wachsen ist das Ziel. Und das dürfte in Norwegen gut möglich sein.
Das Kulturangebot gedeiht im Verhältnis zur geringen Bevölkerungsdichte hier derzeit rasant. Allein in Oslo ist seit der Eröffnung der Norske Opera im Jahr 2008 in Bjørvika ein komplett neuer Stadtteil für die Kultur entstanden: mit dem neuen Munch Museum, dem Kunstdorf Salt und der imposanten Stadtbibliothek Deichman. Kristiansand scheint sich daran ein Beispiel zu nehmen: Unterstützt von Kommune und Staat hat hier 2012 gegenüber dem Hafen, wo Kreuzfahrtschiffe wie die AIDA anlegen, das Theater- und Konzerthaus Kilden eröffnet. Daneben hebt sich die Baustelle für das neue Kunstsilo in den Himmel, dessen Einweihung für 2024 angekündigt ist. Direkt dahinter liegt die Jugendkulturschule Knuden, die erst in diesem Jahr Eröffnung feierte – und wo nun das Kammermusikfest Kristiansand aus der Taufe gehoben wird. Selbst die Einheimischen kennen diesen Saal noch nicht. Anders als die zweite Spielstätte: Die herrliche alte Domkirche im Zentrum der Stadt mag vielleicht etwas zu groß für Kammermusikkonzerte sein, ist aber ein echtes Juwel. „Wir wollten hier unbedingt spielen, weil sie so schön ist“, sagt Anne Camilla Furre Thommesen. Schließlich sind die ersten Reihen im Kirchenschiff gut gefüllt, schaffen es die Musiker, eine intime Atmosphäre in der Kirche zu zaubern, die gefangen nimmt.
Beim letzten Konzert im Gimle Gård, einem alten Herrenhof mit Stilmöbeln, kann man sich gut vorstellen, dass hier vor 100 Jahren schon Musik dieser Art erklang. Das Konzert strahlt umringt von vielen Gemälden an den Wänden wie ein Diamant, auf den das Publikum wohl lange gewartet hat. Die Reihen sind voll besetzt, der Applaus am Ende enthusiastisch, die Freude darüber, dass hier nach langem wieder Kammermusik – und auf solchem Niveau! – geboten wird, ist groß. Zum Abschluss werden noch ein paar Fotos im Park gemacht, die das Lächeln der beiden Festivalgründerinnen einfangen sollen. Die Pilotausgabe des Kristiansand Kammermusikfestivals ist geglückt, Sandra Lied Haga und Anne Camille Furre Thommesen sind zufrieden. Nun heißt es weitermachen. Potenzial und Ideen gibt es genug.