Manuel Schöbel inszeniert eine bezaubernd schöne „West Side Story“ in Rathen
„There’s a place for us, Somewhere a place for us. Peace and quiet and open air – Wait for us – Somewhere“ – Die zeitlos tragische Zeile aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ könnte durchaus einen Ort wie das beschauliche Rathen meinen. Ganz so weit her ist es mit dem Frieden auf der frisch sanierten Felsenbühne allerdings nicht. Denn mit der „West Side Story“ (Fotos: Martin Förster) erwacht zum Auftakt der noch jungen Spielzeit dort das Musical aller Musicals zum Leben – und packt die Zuschauer mit schnoddriger Großstadtatmosphäre im Battle zweier Jugendbanden.
Wie war das noch? Genau, die Jets und die Sharks feiern, trinken und kämpfen um die Straße. Auf der einen Seite Einwandererkids aus Europa, auf der anderen junge Immigranten aus Puerto-Rico, die in Amerika das Glück suchen. Sie verbindet die Sehnsucht nach einem besseren Leben und trennt doch abgrundtiefer Hass aufeinander. Schließlich reichen die unbegrenzten Möglichkeiten im Land der Freiheit bloß einen Straßenzug in den Slums von New York weit, den sie verbittert gegeneinander zu verteidigen suchen.
Für einen Moment jedoch scheint der Kampf anzuhalten. Es ist jener Augenblick, in dem „Jet“ Tony beim Tanz zum ersten Mal der schönen „Shark“ Maria begegnet. „I have just met a girl named Maria“ – und alle Vorurteile lösen sich von da an für die beiden in rosa Wolken auf. Franziska Abram und Florian Neubauer geben ein entzückendes Liebespaar. Sie zeigen Maria und Tony als Außenseiter, die in ihrer bedingungslosen Liebe zueinander über sich hinauswachsen, obgleich sie qua Herkunft zum Scheitern verurteilt sind. Das Publikum schwelgt und zittert mit ihnen, während sich zwischen den Banden auf der Straße immer mehr die Fronten verhärten.
Landesbühnen-Intendant Manuel Schöbel beweist mit pfiffigen Regie-Ideen, dass sich die Großstadt-Schlacht problemlos in der wildromantischen Felskulisse heraufbeschwören lässt. Er inszeniert das Musical bezaubernd schön und mitreißend unterhaltsam, mit vielen berührenden wie humorvollen Momenten. Atemberaubende Stunts (Holger Kahl) und furiose Ballette (Marc Bollmeyer) bringen Broadway-Glamour in den Wehlgrund, ohne die Tiefe des Stoffes auf die leichte Schulter zu nehmen. Auch dank der unvergesslichen Musik Bernsteins wird die Begegnung von Maria und Tony zur bewegenden Lovestory, die spannungsvoll mit lebhaften Tanz- und Kampfszenen kontrastiert.
Ralph Zeger hat dazu ein Bühnenbild geschaffen, dass den Balletten viel Raum gibt und sich vor allem durch raffinierte Details auszeichnet: Schaufensterpuppen aus dem Brautmodengeschäft von Marias Freundin werden spielend zur dekorativen Personnage, eine eiserne Kugel dient als Klettergerüst und Ausguck, der Drugstore als Treffpunkt und Versteck ist ein einfacher Schuppen am Bühnenrand und Maria darf wie Shakespeares Julia vom Felsbalkon schmachten. Kitschiger Clou ist die dicke Freiheitsstatue, die kurzzeitig auf den Felsen thront und die Protagonisten unten fast zu verhöhnen scheint. Denn natürlich steckt in dem Musical nach einem Buch von Arthur Laurents und mit Liedtexten von Stephen Sondheim auch eine gehörige Portion Gesellschaftskritik.
Das Ensemble der Landesbühnen Sachsen bringt die Geschichte trotz gesanglicher Schwächen mit ungeheurer Spielfreude auf die Freilichtbühne, die gestalterisch eben doch mehr bietet (aber auch mehr herausfordert) als der klassische Guckkasten. Gero Wendorff gibt Riff, den Chef der Jets, als dynamischen Sunnyboy. Michael Martin spielt den feurigen Bernardo auf der gegnerischen Seite der Sharks. Eva Löser verleiht Marias Vertrauter Anita vor allem am Ende überzeugende Zerbrechlichkeit. Matthias Avemarg bleibt als Drugstore-Chef Doc ebenso wie Renat Safiullin als motorisierter Officer Krupke auf die ernsthaft mahnende, aber doch machtlose Autorität der Erwachsenen beschränkt. Und Antje Kahn verleiht der Homeless Woman mit allem Hab und Gut im Kinderwagen Präsenz, bis sie „Somewhere“, den zentralen Song des Musicals, anstimmen darf und mit zerbrechlicher Stimme aus dem Schattendasein hervortritt.
Die vielleicht wichtigste Rolle jedoch kommt der Elbland Philharmonie Sachsen zu, die unter der Leitung von Hans-Richard Ludewig brodelnden Drive wie sehnsuchtsvolle Wärme in Bernsteins Melodien bringt. Im Polizistenoutfit werden die Musiker zu einer Triebfeder der Handlung, wobei die neue Bühnenkonstruktion mit überdachter Orchesternische der Open-Air-Akustik sehr zuträglich ist.
Das sehnsuchtsvolle „Somewhere“ klingt denn auch beim Weg durch den dunklen Wehlgrund hinab zur Elb-Fähre noch im Ohr, beschreibt es doch ein ewiges Dilemma der Menschheit. Letztendlich aber entlässt der Abend die Zuschauer glücklich in die Nacht – schade nur, dass die Zeit der „West Side Story“ in Rathen fast schon wieder vorbei ist. – „There’s a time for us, Some day a time for us, Time together with time to spare, Time to look, Time to care – Some day!“
Info: Leonard Bernstein „West Side Story“ auf der Felsenbühne Rathen, wieder am 10. Juli 2022 – Karten sowie weitere Infos zum Programm gibt’s hier!