Lukas Bärfuss’ „20000 Seiten“ am Kleinen Haus
Im schummrigen Nachtlicht sitzt Tony (André Kaczmarczyk) auf seinem Bücherstapel vor dem Radiomikrofon. Er erzählt mit ruhiger, aber empörter Stimme über die beschämende Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Er berichtet vom unrühmlichen Umgang des kleinen Landes mit den Flüchtlingen vor dem Nazi-Regime – doch niemand hört ihm zu. Es ist vielleicht die berührendste Szene in Lukas Bärfuss Stück „20000 Seiten“, das am 17. Januar im Kleinen Haus Deutsche Erstaufführung feierte. Ein Stück über die Verantwortung für die Erinnerung auch an weniger schöne Kapitel der Vergangenheit, das nicht nur in der Schweiz spielen könnte.
Dabei kann der schüchterne Tony ja gar nichts dafür, dass ihm versehentlich ein 20000-seitiges Lexikon über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg auf den Kopf fiel. Pech genug, möchte man glauben, doch die Tatsache, dass er fortan jeden Satz und jede Zeile, ja sogar jede Silbe, die in diesem Lexikon geschrieben steht, aus dem Gedächtnis aufsagen kann, macht ihn fortan zum Außenseiter unter Verrückten. Verzweifelt versucht dieser Tony, ein Durchschnittstyp in legeren Klamotten (Kostüm: Ute Lindenberg), nun die keineswegs unbedeutenden Inhalte „seines“ Gedächtnislexikons in die Welt zu streuen. Doch die gibt sich reichlich ignorant. Ob Irrenanstalt, Radiosender, Fernsehen oder Wissenschaft – alle sind letztlich nur darauf bedacht, Tony für den billigen Selbstzweck zu missbrauchen. Erinnerung, Identität, Sinn oder gar Wahrheit unerwünscht.
Regisseur Burkhard C. Kosminski hat das hintersinnige Werk des Schweizer Autors in eine bunte, abwechslungsreiche, aber auch nachdenkliche Inszenierung verpackt. Sie beginnt mit einem verwirrend wahren Dialog über Sein und Schein, der als ironisches Vorspiel im Spiel erste Schmunzler weckt. Was folgt, wird von Florian Etti in einen beliebigen Phantasieraum mit riesigen, lattenrostähnlichen Elementen gepackt, welche sich zu einer Art Käfig, Tor oder schrägen Ebene kippen und schieben lassen. Im Mittelpunkt strauchelt Tony mit seiner Bürde des Wissens, einem riesigen, mit Büchern gefüllten Rucksack. André Kaczmarczyk vermittelt die Verzweiflung der Figur so rührend, dass man ihn am liebsten an die Hand nehmen und aus dem Sog dieser verrückten Bühnengesellschaft ziehen möchte, um mit ihm sein Wissen zu teilen – fragt sich nur wo und mit wem?
Schließlich kann selbst Tonys Freundin Lisa nicht verstehen, warum ihm das zufällig erlangte Wissen so wichtig ist, dass er es seit dem merkwürdigen „Unfall“ als seine Lebensaufgabe betrachtet, dieses zu verbreiten. Laina Schwarz lässt sich nicht anmerken, dass sie anstelle der erkrankten Ines Marie Westernströer in die Rolle der Lisa geschlüpft ist. In schulmädchenhaftem Kurzrock, mit Strümpfen, Wollpulli und Bluse versucht sie, ihrem Tony mal mit Strenge, mal mit Liebe zu helfen. Vergebens.
Nur ein kleiner, alter Mann scheint zu wissen, wie es Tony eben ergeht. Der Verfasser des Lexikons, Wüthrich, dessen Berichte über das wahre Leben nie gut bei Verlegern und Lesern ankamen und der das Werk daher kurzerhand aus dem Fenster pfefferte, scheint ein kleiner, aber allzu vergänglicher Lichtpunkt in der intellektuellen Einbahnstraße zu sein, in die Tony geraten ist. Gespielt wird der seltsame Alte von dem zehnjährigen Anton Petzold – ein ebenso cleverer wie wirkungsvoller Regieschachzug. Das Gespräch der beiden gehört zu den gelungenen, wenigen stillen Momenten der Inszenierung und hallt wohl auch deshalb noch länger nach.
Der Rest des Ensembles ist für den raschen Wechsel der mehr oder weniger dümmlichen Ignoranten auf der Bühne zuständig. Rasant tauschen dabei Sascha Göpel, Cathleen Baumann und Torsten Ranft die Rollen zwischen verschiedensten Typen. Vor allem Ranft gelingt dies so gut, dass man oft erst zweimal hinschauen muss, bevor man ihn wiedererkennt. Bei diesem rasanten Spiel schwingt immer auch ein bisschen Komödie und ein bisschen Kabarett mit, etwa wenn Cathleen Baumann als beleibte Busfahrerin bei einer Megatalentshow seichte französische Liedchen trällert.
Jene Megatalente-Castingshow ist denn auch der traurige Höhepunkt des Stücks. Vor all den – aus dem Trash-Fernsehen leider irgendwie bekannten – Möchtegerntalenten, deren größtes Talent wohl in lauthals präsentierter Talentlosigkeit besteht, macht sich auch Tony zum Trollo. Mit einem gelben Elefanten auf dem Kopf – ein Wunsch des Managers – rezitiert er bedeutungsschwere Inhalte aus dem Lexikon. Doch wieder bleibt er der Einzige, dem es um deren Sinn geht. Vor laufender Kamera wird hier die Verblödung der Gesellschaft bunt-glitzernd zelebriert, während Tony desillusioniert in die Endstation Versuchskaninchen einfährt. Im Neonlichtlabor strandet er schließlich in einer transparenten Luftblase – eine ganze Menge mehr Wissen im Hirn, das nun ins Leere tröpfelt. So endet ein bis auf einige Lamentier-Längen gleichfalls witziger wie nachdenklicher Abend.
Lukas Bärfuss „20000 Seiten“ am Kleinen Haus, wieder am 8.2., 27.2. und 7.3., 19.30 Uhr