Der Menschheit Zukunft als Unterhaltungsladen

Pucchinis „Turandot“ erschreckt und bezaubert an der Semperoper Dresden

Am Ende siegt sie doch, die Liebe! In einem Spiel, dass die Regisseure Marie-Eve Singneyrole und Heiko Hentschel an der Semperoper Dresden als riesengroßes weltweites „Turandot“-Spektakel (Fotos: Semperoper/Ludwig Olah) zeigen. Ein Spiel mit Leben und Tod, in dem sich die Sucht nach Macht und Aufmerksamkeit spiegeln, und das erschreckende Parallelen in die Gegenwart zieht.

Ja, wenn zum Schluss noch einmal Puccinis berühmtes „Nessun Dorma“ erklingt, schwelgt der Saal, badet in dieser Musik, die schon Generationen vor uns in den Bann zog. Die Neuinszenierung von Puccinis „Turandot“ an der Semperoper jedoch ist alles andere als Schwelgen, spielt sie doch mit dem Gedanken, dass wir vielleicht die letzten sind, die sich wohlig darin baden können. Puccinis Opernklassiker kommt hier als voyeuristisches Endzeitgame auf die Bühne. Eine dystopische Vision à la „Die Tribute von Panem“, in der die chinesische Prinzessin Turandot im Jahr 2099 die letzte noch gebährfähige Jungfrau ist. Eingesperrt in eine Art Terrarium (Bühnenbild: Fabien Teigné) inmitten einiger vermutlich mühsam erhaltener lebendiger Pflanzen stellt sie ihren Gemahls-Anwärtern jeweils drei Fragen als Rätsel. Wer sie löst, darf die Schöne heiraten und zur Rettung der Menschheit beitragen, wer das Spiel verliert, wird gnadenlos hingerichtet.

Zu Puccinis Zeit hat sich das Publikum allzu gern live an der Lösung der Rätsel der schönen, exotischen Prinzessin beteiligt. An der Semperoper wird es nun Teil einer großen, an amerikanische TV-Formate erinnernden Show, der Turandot-Spiele: Gemeinsam mit dem Chor darf es sich an der öffentlichen Bloßstellung der jungen Männer und der Gewalt auf der Bühne ergötzen. Fast wie im Kino, nur dass die Realität dieser vermeintlichen Spiele mit Ansagen und animiertem Logo bis in den Zuschauersaal hineinragt.

Die alte Oper wird so auf unterhaltsame Weise lebendig. Und die Musik verzaubert wie vor 100 Jahren! Ivan Repusic lässt den Orchesterklang der Sächsischen Staatskapelle Dresden in den weichen, wogenden Partien glitzern und funkeln, zumeist jedoch atemberaubend toben und brausen. Die Musik wirkt dabei tatsächlich sehr filmisch, sie koloriert das Geschehen auf der sonst eher düsteren Bühne in den mannigfaltigsten Farben und verleiht tiefe Einblicke in die Seele der Protagonisten. Optisch verstärkt wird der cineastische Effekt durch diverse Handkameras (Regie: Philipp Schwuchow), die Nahaufnahmen der Sänger einfangen und wiederum per Videoprojektion eine zusätzliche Ebene erzeugen. Ganz im Sinne der heutigen Unterhaltungsmaschinerie gibt es so immer und überall etwas zu sehen, in einer Ästhetik wie wir sie vom Fernsehen gewohnt sind.

Elisabeth Teige gibt die Turandot mit gewaltiger Stimme und erinnert im langen Gewand und mit der weißblonden Perücke optisch an Disneys Eisprinzessin. Eingesperrt in ihr seltsames Terrarium scheint die Turandot nicht grundsätzlich böse, sondern eher naiv zu sein und gar nicht zu verstehen, was sie den Verlierern im Spiel antut. Erst die Begegnung mit der ehrlich liebenden Liù öffnet ihr schließlich die Augen und das Herz. Elbenita Kajtazi verzaubert in der Partie der Liù vom ersten Ton an und zeigt die unglücklich in den Prinzen Calaf Verliebte als starke junge Frau, der sie stimmliche Tiefe und Wandlungsfähigkeit schenkt. Aleksei Kulagin ist als vertriebener König Timur ein ebenbürtiger Partner an ihrer Seite und Yonghoon Lee kann als Calaf nicht nur mit der berühmten Arie „Nessun Dorma“ rühren, sondern verleiht dem unerwarteten Gewinner im Spiel durchweg packende Vitalität und Leidenschaft.

Zahlreiche Gänsehautmomente in dem gigantischen Spiel gehören zudem den Sängern aus Sächsischem Staatsopernchor, Sinfoniechor und dem Kinderchor der Semperoper Dresden (Leitung: André Kellinghaus und Claudia Sebastian-Bertsch). Gemeinsam sorgen sie nicht nur für berauschende Bilder auf der Bühne, sondern lassen dramatische wie lyrische Partien in der Musik zu fesselnd beglückenden Opernaugenblicken werden. Die Masse, die sich anfangs noch an Gewalt und Brutalität labte, jubelt so schließlich in dem Augenblick, in dem Turandot ihre Liebe zu Prinz Calaf findet und ihre beiden Völker wieder vereint werden. Die Zeitrechnung stoppt, die Menschheit scheint zumindest für den Moment gerettet – ein Moment der Hoffnung.

So schräg wie dieses Spiel mit dem Spiel auch ist, so sehr fesselt es, zieht hinein in diese Oper um Liebe und Macht, deren Handlung vielleicht noch nie ganz lückenlos logisch daherkam – und die doch bis heute bezaubert. Minutenlang stehende Ovationen nach der Premiere beweisen, dass sich daran wohl auch im Fernseh- und Internetzeitalter nichts geändert hat, und angesichts ganz aktueller Kriegsmeldungen am Premierentag bleibt zu hoffen, dass die Liebe nicht allein auf der Bühne zu siegen vermag.

Info: Giacomo Puccini „Turandot“ an der Semperoper Dresden wieder am 11. und 14. Oktober sowie am 13., 18., 22. und 25. November 2023

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