Politik im Transitraum

Laura Scozzi inszeniert Rossinis „Die Reise nach Reims“ an der Semperoper als Groteske auf Europa

Endlich ist das politische Musiktheater zurück in Dresden! Ja, es geht wild her in Gioachino Rossinis „Il viaggio a Reims/Die Reise nach Reims“, die als Dresdner Erstaufführung die neue Spielzeit an der Semperoper eröffnet. Und wie! Wann haben wir zuletzt gelacht in der Oper? Wann haben wir uns zuletzt über eine Inszenierung gewundert, die Augen gerieben und in der Pause heftig mit dem Sitznachbarn diskutiert? In dieser Oper (Fotos: Ludwig Olah) ist alles möglich, denn Regisseurin Laura Scozzi inszeniert gnadenlos heutig.

Sie schreibt Rossini neu, serviert feinstes Regietheater jenseits traditioneller Lesarten. Nicht brav und gediegen, sondern mutig zeigt sie das Stück als politische Groteske auf das Europa der Gegenwart. Und bedenkt man, dass diese Oper 1825 aus Anlass der Krönung des Königs Karl X. von Frankreich entstand, so muss man sagen: Sie nimmt die Vorlage bei allem Klamauk, der ihrer Inszenierung innewohnt, sogar sehr ernst. Laura Scozzi inszeniert die Story auf dem Rollfeld der Geschichte. Brüssel, Brexit und gelbe Westen – fast jedes Thema, das derzeit durch die Newskanäle tickert, tanzt im Laufe des knapp dreistündigen Abends einmal über die Bühne.

Acht Staatschefs wagen ein Ballett der Befindlichkeiten.

Dabei entblößen sich die Vertreter der verschiedenen Nationen am Ende doch bloß als Menschen, angetrieben von Gefühlen wie Verlustangst, Zuneigung, Eifersucht oder gar Liebe. Das Ballett der Staatschefs trifft auf der Reise nach Reims oder Brüssel oder Paris zusammen – und kommt dank eines Streiks einfach nicht weiter. So manche Fehde erwacht, immer umspült von Rossinis Musik, die in zahlreichen Zwischenspielen fast wie in einer Fernsehshow wirkt und der Francesco Lanzillotta am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden allerhand Ironie abtrotzt. Aktualisiert wird auch hier: Als Hommage an die Idee Europa erklingt am Beginn des zweiten Bildes Beethovens Europahymne – vom Publikum sofort mit Applaus quittiert.  

Dresden, Reims oder Brüssel? Auf jeden Fall: heute!

Scozzi liebt das Spiel mit Bildern, Symbolen und Andeutungen. Allein die Bühne von Natacha Le Guen de Kerneizon ist ein Hingucker: Moderne Architektur dreht sich um lichte Europabüros und einen Konferenzsaal, der später auch als Flughafenterminal herhält. Das Geschehen auf dem Weltparkett wird in Echtzeit auf Bildschirme (Video: Stéphan Broc) gestreamt – sowie (äußert humorvoll) in Gebärdensprache übersetzt. So werden aus Befindlichkeiten flugs internationale News, während sich der Wille zum Frieden als Zaubershow voller Illusionen entpuppt.

Gefangen in der Gegenwart – 14 Staatschefs kommen einfach nicht weiter.

Vom ursprünglichen Libretto Giuseppe Luigi Balochi bleibt bei so viel Hintersinn kaum noch etwas übrig. Ensemble, Chor und Ballett der Semperoper tanzen im Takt dieses wilden Europas, ohne eine Lösung für dessen Brüche zu finden. Elena Gorshunova entzückt als römische Dichterin Corinna mit ihrem hellen Sopran, der zur Stimme des Guten wird. Auch setzt Maria Kataeva in der Partie der Polin Marchesa Melibea Akzente. Ihr leidenschaftlicher Kampf mit dem russischen Grafen von Libenskof, dem Edgardo Rocha stimmlich Profil verleiht, ist einer der musikalischen Höhepunkte nach der Pause. Tuuli Takala gelingt es selbst im größten Tumult, den rasanten Koloraturen der Gräfin von Folleville Farbe zu verleihen. Und jemanden wie Tilmann Rönnebeck kann als Don Prudenzio ohnehin nichts aus dem Takt bringen.

Exit, dank Brexit. Schon geht’s ab.

Am Ende wird die Wartehalle zur Showbühne, auf der die Abgeordneten jeweils einen Lobgesang auf ihr Heimatland anstimmen. Martin-Jan Nijhof darf als Baron von Trombonok die Deutsche Hymne intonieren, zu der Super-Merkel als diplomatische Europaretterin einschwebt. Georg Zeppenfelds Lord Sidney wird nach dem Auftritt kurzerhand des Saals verwiesen, Brexit heißt eben Exit. Ohne auch nur ein Momentchen Langeweile zuzulassen, zeigt die Regisseurin dabei, dass sich in der Welt vielleicht gar nicht viel verändert hat, seit der Ur- bis zur Dresdner Erstaufführung von Rossinis Oper. Zur Premiere erntet sie dafür nicht nur Applaus, sondern auch Reaktionen im Saal. Das Theater ist lebendig wie lange nicht: Ein Zwischenruf, ein Saalflüchtiger, Gelächter, Gespräche mit dem Sitznachbarn und Diskussionen im Rundfoyer! Was will Oper denn noch mehr?

Info: Rossini „Il Viaggio a Reims/Die Reise nach Reims“ an der Semperoper Dresden, nächste Aufführungen am 3., 6. und 9. Oktober

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