Das Geschichtenhaus I

Eine Erzählung zum Erich-Kästner-Jahr 2019 – Teil (1)

Es war nicht bloß die Kälte, die Mia die Tränen in die Augen trieb, als sie an diesem eisigen Februartag durch die Neustadt lief. So fremd war ihr Dresden. Mia zog die Kapuze tiefer in die Stirn und fluchte leise. Zum Glück konnte sie niemand hören. Der Wind blies heute heftig durch die engen Gassen. Doch abgesehen davon war Dresden still. Die barocken Bauten drüben in der Altstadt standen starr an ihrem Platz wie seit Jahrhunderten schon. Selbst die Schaufelraddampfer lagen stumm am Ufer, weil es viel zu kalt für Rundfahrten war.

Kurz entschlossen bog Mia ab, zurück ins Leben auf die Königsbrücker Straße. Dort herrschte immer Trubel. Sie fror, als hätte der Winter ihr Herz okkupiert und rannte fast über die nächste Kreuzung, an deren anderem Ende ihr plötzlich ein alter Mann gegenüberstand. „Nicht so eilig junge Frau!“, sagte er und schaute sie aus gütigen Augen aufmerksam an. „Darf ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten?“ Seine Stimme hatte einen seltsam warmen Ton, der gar nicht zur klirrenden Kälte draußen passen wollte. Irritiert schaute Mia den alten Herrn an und nickte kaum merklich. „Sehen Sie, ich habe gerade hier eingekauft, aber der Korb ist sehr schwer. Rotwein und Wasser, das ist für einen alten Mann wie mich nicht leicht zu tragen. Wären Sie so lieb und würden mir helfen, den Korb in meine Wohnung zu bringen?“, sagte er nun. Der Alte stand gebückt vor ihr, sprach aber mit einer Lebendigkeit, die der eines Vierzigjährigen entsprach. Jetzt lächelte er.
„Na, klar. Wo ist es denn?“, antwortete Mia kurz.
„Gleich hier vorn, Königsbrücker 48. Ich wohne im dritten Stock. Ich bin übrigens Max, aber Du kannst Emil zu mir sagen.“

Mia war zu irritiert, um darauf etwas zu entgegnen, deswegen sagte sie nur kurz: „Ich bin Mia“, schnappte sich den Korb, den der Alte auf die Straße gestellt hatte und bot ihm ihren linken Arm an, um ihn nach Hause zu geleiten. Die Königsbrücker Nr. 48 befand sich nur wenige Hauseingänge weiter, ein Stück die Straße rauf. Vor der Haustür nestelte Max seelenruhig seinen Schlüssel aus der Jackentasche und steckte ihn ins Schloss. Die Tür knarrte leise, fast ein wenig geheimnisvoll, als er sie öffnete und Mia mit einer galanten Bewegung bat, einzutreten.

„Wohnen Sie allein?“, fragte sie jetzt, um die Stille zu unterbrechen.
„Ja, meine Frau ist letztes Jahr gestorben. Mein Sohn lebt mit seiner Familie in München. – Geh hinauf, es ist im dritten Stock“, bat Max, als Mia mit dem Korb den Hausflur betrat. Er führte direkt zu einer massiven Steintreppe mit gelbbraunen Stufen, die in einem Absatz vor einem kleinen Fenster mündete und sich von dort in einem scharfen Bogen nach oben wendete. Mia spürte die Wärme des Hausflurs und atmete erleichtert aus.

„Geh ruhig hoch, Mia. Ich komme schon nach“, drängte Max jetzt. Sie schleppte den Korb die Treppe hoch und bemerkte, dass das Fenster den Blick auf einen kleinen, für diesen Stadtteil ungewöhnlich hübschen Hof freigab. Max folgte ihr mit schlürfenden Schritten, weshalb Mia im ersten Stock kurz auf ihn wartete. „Haben Sie schon mal überlegt, in ein Haus zu ziehen, in dem es bequemer für Sie ist? Vielleicht mit Lift?“, fragte sie nun. Max lächelte über die Frage und schüttelte nur den Kopf. „Ich wohne mein ganzes Leben schon hier. In der Wohnung von Erich Kästner“, fügte er mit geheimnisvoller Stimme hinzu. „Von Erich … Wem?“, Mia wusste, dass sie den Namen schon mal gehört hatte, konnte sich aber nicht erinnern, wo.

„Erich Kästner, der berühmte Autor. Hast Du nie das ‚Doppelte Lottchen‘ oder ‚Das fliegende Klassenzimmer‘ gelesen, Mädchen?“ Oh je, schon wieder ein Fettnäpfchen. Mia schaute betreten auf die hölzerne Wohnungstür gegenüber. „Ach, stimmt. Ja, habe ich schon mal gehört“, sagte sie kleinlaut. Max ließ jedoch keine peinliche Pause erst aufkommen. „Du solltest seine Bücher lesen. Zuerst vielleicht den ‚Fabian‘, der könnte gut zu Dir passen“, begann er nun und schlürfte langsam weiter. Mia verstand nur Bahnhof. Sie war hier offenbar an einen alten Freak geraten. Sie zog den Einkaufskorb näher an den Körper heran. Er war wirklich schwer. Dann fragte sie Max schüchtern: „Und dieser Kästner hat hier gewohnt?“

Max, der gerade den rechten Fuß auf die nächste Treppe gesetzt hatte, sah sie jetzt mit lebendig funkelnden Augen an. Er stampfte wie zur Betonung mit seinem Spazierstock auf den Boden, als er sagte: „Hier, genau auf dieser Treppe hat er als Kind mit seinen Zinnsoldaten gespielt. Erich Kästner wohnte im dritten Stock, nun rate mal, wer seiner Familie diese Wohnung damals besorgt hat!“

Max setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, während Mia stumm hinter ihm zurückblieb. Sie schaute dem alten Mann zu, wusste aber nicht recht, was sie nun sagen sollte. Der Kästner hat hier gewohnt. Wie lange mochte das her sein? Sie schlich mit dem Korb hinter Max her, die Treppe hinauf. Allmählich taten ihr die Arme weh. Oben stoppte der Alte indes vor einer hölzernen Flügeltür und schaute die Studentin erwartungsvoll an. „Danke, junge Frau. Darf ich Sie als Dankeschön einladen, auf einen Kaffee bei Erich Kästner?“

Fortsetzung folgt.

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