Szene12 spielt eine Kammeroper nach Puccinis „La Bohème“ – und rührt fast zu Tränen …
Der alte Ballsaal im Zentralwerk Pieschen ist kaum wieder zu erkennen: Das OFF-Opernensemble von szene12 (Foto: PR/Kjeld Stein) hat den Raum in lauschiges Licht getaucht, eine riesige, hölzerne Zuschauertribüne steht in der Mitte, dahinter eine kleine Bar mit Sitzecken. Die Bühne (Leonore Pilz) verströmt die heimelige Atmosphäre einer jungen Wohngemeinschaft, mit einer wüsten Zettelwand, alkoholischen Getränken in den Regalen, Esstisch und einer Matratze als Schlafgelegenheit. Inmitten dieser Kulisse führen die jungen Musiker nun in ihrem vierten gemeinsamen Projekt eine Kammeroper nach Puccinis „La Bohème“ auf und machen dem Publikum einmal mehr Lust auf Oper.
Regie führt abermals der Gründungsvater des Vereins, Toni Burghard Friedrich, der mit kecken Einfällen und einem überaus motivierten Ensemble selbst einem dramatischen Opernkassenschlager wie „La Bohème“ noch humorvolle Momente entlockt. Zusammen mit dem Dramaturgen Maximilian Eisenacher und dem musikalischen Leiter Matthew Lynch hat er Puccinis Werk zu einer schlüssigen Kammeroper entschlackt, in der zwar die wichtigsten Handlungsstränge erhalten bleiben, die jedoch mit Eigenkreationen des jungen Opernteams gewürzt ist. Die schönste Idee ist sicher die Figur des Erzählers, der jeweils vor den Akten auftritt und den der Countertenor Etienne Walch mit viel Bohème-Charme und stimmlicher Vielseitigkeit gibt. Basis für diese Rolle bieten vier Texte, die schon bei Puccini den Akten vorangestellt sind und nun von Susanne Hardt neu vertont wurden.
Die Neufassung des berühmten Stoffes zieht so von Anbeginn in ihren Bann und gerät auch musikalisch absolut überzeugend. Denn selten kann sich ein junges OFF-Projekt auf so gute Sänger verlassen wie in dieser Produktion. Der Engländer Luke Sinclair lässt in der Partie des Rudolfo gleich in seiner ersten Szene Gänsehaut prickeln. Annika Steinbach steht ihm als souveräne Mimi zur Seite. Der Abschied im dritten Akt gerät wahrlich ergreifend und auch in der Schlussszene sollte man lieber ein Taschentuch griffbereit haben. Mehrfach dürfen sich die jungen Sänger zur Premiere über spontanen Szenenapplaus freuen. Zu Recht!
Denn auch Arvid Fagerfjäll als Schaunard, Nikolaus Nitzsche als Marcello, Meinhardt Möbius in der Partie des Colline, Leevke Hambach als lebenshungrige Musetta und Johannes Worms als Benoît leisten stimmlich Beachtliches. Gesungen wird auf Deutsch, der Textverständlichkeit steht allenfalls der Hall im großen Saal ab und an mal im Weg.
Das Kammerorchester mit jungen Musikern aus ganz Großbritannien sitzt dabei nicht im Graben, sondern quasi auf der Bühne – und verblüfft mit einem satten, voluminösen Klang. Matthew Lynch holt erstaunlich viel Kraft aus dem Klangkörper und schafft so eine flirrende, spannungsvolle Atmosphäre für das Stück. So bleibt zum Schluss nur eine einzige Warnung, die an dieser Stelle ans (künftige) Publikum zu richten wäre: Bitte zieht euch warm an, packt Strickjacken und Halstücher ein und streift die dicken Strumpfhosen über, denn wie es sich für echte Bohemiens gehört, haben sie das Zentralwerk Pieschen bislang für die Vorstellungen nicht geheizt. Im Kuschelpulli jedoch lässt sich die typische Dackkammergemütlichkeit und heimelige Kneipenatmosphäre der Bohemiens trefflich genießen. Zwischendurch darf es auch ruhig mal ein Walzer oder etwas Jazz sein, sonst wäre es ja langweilig. Und am Ende dann kommt die Gänsehaut sowieso ganz von selbst – so, wie es sich für Puccini eben gehört!
Szene12 spielt Puccinis „La Bohème“ als Kammeroper im Zentralwerk Pieschen, weitere Vorstellungen am 27.9., 29.9., 1.10. und 3.10.