Zwischen Traum und Tradition

Staatsoperette Dresden zeigt „Anatevka“ – eine Kritik

Die Bewohner von „Anatevka“ sind ein ausgelassenes Völkchen: Sie singen und tanzen, feiern das harte Leben und ihre jüdischen Traditionen. Die geben ihnen Halt im Russland des Jahres 1905, wo der Zar die jüdische Bevölkerung mehr und mehr in Unruhe versetzt. Regisseur Arne Böge charakterisiert dieses Volk in seiner Musical-Inszenierung an der Staatsoperette Dresden vor allem mit schwungvollen Balletten (Choreografie: Radek Stopka) und lebendigen Festen, mit Trinkgelagen und frommen jüdischen Bräuchen (Foto: PR/Stephan Floß).

Im Mittelpunkt der Handlung nach Geschichten von Sholem Aleichem, die 1964 mit einem Buch von Joseph Stein und Musik von Jerry Bock zum Musical wurden, steht der alte Milchmann Tevje, der mit seiner Frau Golde, fünf Töchtern und dem „Fiedler auf dem Dach“ ein einfaches Leben in Anatevka lebt – und seine drei ältesten Mädels gewinnbringend verheiraten möchte. Doch die Zeiten ändern sich, auch in Anatevka. Die Töchter sind nicht mehr nur den Traditionen ihres Dorfes und ihren Eltern ergeben, sie lassen sich von Heiratsvermittlerin Jente nicht einfach verkuppeln, sondern entscheiden sich jeweils für den Mann, den sie auch lieben – und bringen das Traditionsgerüst ihres Heimatdorfes damit gehörig ins Wanken.

Schlichte Melancholie im jüdischen Kolorit

„Anatevka“ ist ein melancholisches, ein trauriges Musical, das auf schlichte, volksliedhafte Weisen statt auf große Orchesterpassagen setzt und die einfachen Bürger in den Fokus rückt. Arne Böge zeichnet diese in seiner Inszenierung im typisch jüdischen Kolorit: Die Frauen tragen Kopftücher und knielange Röcke, die Männer Mäntel und wuschelige Bärte. Hendrik Scheel schuf dazu das von einer einfachen Bretterkulisse umrahmte Bühnenbild, in dessen Mitte sich die Andeutung einer Hütte mit holziger Türkonstruktion dreht, die zugleich Wohnstube, Schlafkammer und Wirtshaus symbolisiert. Mit sinnlichen Bildern entführt diese Bühne in das Dorf Anatevka, in dem die Bewohner ein frommes Abendgebet unter leuchtenden Sternen anstimmen oder die festliche Hochzeit von Tevjes Tochter Zeitel unterm Baldachin feiern.

Surreale Traum-Ebene sorgt für bunte Brüche

Böge fügt seiner Inszenierung allerdings noch eine zweite, fast surreal anmutende Ebene hinzu, die immer dann sichtbar wird, wenn der alte Tevje aus dem Alltag ins Land der Träume und Gedanken abschweift. Da tanzt einmal ein helles Einhorn neben ihm, als er sich ein besseres Leben wünscht oder der Fiedler tritt mit seiner Violine hinzu – mal als buntes Pferdchen maskiert, mal im Frack und zum Schluss in einem lila Samtanzug. Höhepunkt dieser beinahe zirkushaft anmutenden Einschnitte ist jedoch ein ausgewachsenes Zombie-Ballett, dass sich gruselig die Bühne erobert, als Tevje seiner Frau Golde von einem Alptraum berichtet, indem die Oma Zeitel ihn deutlich vor der Verheiratung der ältesten Tochter mit dem Fleischer warnt.

Das wirkt wie ein bunter Bruch zu der sonst eher grauen Welt des jüdischen Dorfes, erweckt die sonst recht klassische Inszenierung aber immer wieder erfrischend mit Leben. Wirklich mitreißend gelingen zudem die Ballette und Tanzszenen, in denen das riesige Ensemble lebhaft die Bühne rockt und das Publikum immer wieder zu begeistertem Zwischenapplaus animieren kann. In ausgelassenen Szenen wie diesen dreht denn auch das Orchester der Staatsoperette Dresden unter der Leitung von Christian Garbosnik richtig auf, transportiert mit klaren Akzenten pure Lebensfreude.

Musik wirkt poliert und wenig spontan

Nur die typisch melancholische Grundstimmung des Stückes will musikalisch zur Premiere nicht so recht greifen. Das natürlich Volksliedhafte in der Musik wirkt besonders in den Gesangsteilen noch zu poliert, es fehlt an jener ungeschliffenen Spontanität, die den schlichten Liedern Seele und Tiefe einhaucht. Allein Bettina Weichert kann als Golde ein paar zart wärmende Klangfarben entwickeln, Elmar Andree gibt einen stimmlich zwar soliden Tevje, wirkt aber in den melancholischen Partien zu unaufgeregt. Im Orchester spiegelt sich wider, was in den Stimmen besonders augenfällig wird: Auch hier hat klare musikalische Struktur Vorrang vor improvisatorischer Verschleifung, Perfektion verdrängt Gefühl.

Das ist schade für das Stück, das doch gerade vom verklärten, tief traurigen Spiel des geheimnisvollen „Fiedlers auf dem Dach“ lebt. Alexander Bersutsky spielt in dieser sonst ganz stummen Rolle das bekannte Violinmotiv, das immer wieder im Musical auftaucht und auch noch lange darüber hinaus im Ohr bleibt – ein Motiv auf Messers Schneide, das Glück und Unglück des Dorfes Anatevka klanglich versinnbildlicht und von jenen Veränderungen in der Welt erzählt, die doch immer dieselben zu bleiben scheinen.

„Anatevka“ an der Staatsoperette Dresden, wieder am 28.6., 15 Uhr und 30.6., 1.7., 19.30 Uhr

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