Huxleys „Schöne neue Welt“ am Staatsschauspiel
Identität, Konformität, Stabilität. Das sind die Staatsmaxime, aus denen Aldous Huxley (1894–1964) in seinem Roman „Schöne neue Welt“ (1932) die Utopie einer perfekt funktionieren Gesellschaft baut. Eine Gesellschaft aus Retortenmenschen (Foto: PR/David Baltzer), in der ein jeder genetisch auf die ihm vorbestimmte Aufgabe im System konditioniert wird. Eine Welt des Konsums, in der Krankheiten ausgerottet, echte Liebe überflüssig und der Tod auf das 60. Lebensjahr festgelegt sind. Regisseur Roger Vontobel lässt diese Romanutopie in einer knackigen Theaterfassung von Robert Koall zum Saisonstart auf der Bühne des Schauspielhauses Dresden auferstehen.
Er inszeniert diese schöne, neue Welt hier als gigantische Musik- und Videoshow, stellt einem starken Ensemble – ähnlich wie im „Hamlet“ schon – riesige Videoprojektionen (Clemens Walter) und die musikalische Begleitung von Keith O’Brian zur Seite. In der Mitte der Bühne schraubt sich ein großer, quadriger Turm in die Höhe (Bühne: Claudia Rohner), kann nach Belieben gedreht oder wieder zurück geschraubt werden. Die Phantasiewelt des Romans wird so geschickt in die Bildsprache des Theaters übersetzt. Von Anfang an kontrastieren dabei die perfekten Idealmenschen in ihren makellos sterilen Anzügen (Kostüm: Ellen Hofmann) mit der schnottrigen Erscheinung von John (André Kaczmarczyk) und seiner Mutter Linda (Rosa Enskat).
Beide sind fremd in diesem System des scheinbar unbegrenzten Glücks, in dem ausschweifender Sex Bürgerpflicht, jede Individualität jedoch unerwünscht ist. Linda, die Rosa Enskat als vom Wahnsinn zerrissene Person zeigt, ist in dieser modernen Retortenwelt so überflüssig, dass sie sofort gezielt zu Tode therapiert wird. Ihr Sohn John hingegen wird als „der Wilde“, noch auf natürliche Art gezeugte Gast von Bernhard (Benjamin Pauquet) in das ausgeklügelte Kastensystem aus Alpha-, Beta- und Gammamenschen eingeführt. Er verliebt sich in die rothaarige Lenina (Sonja Beißwenger), die zwar Leidenschaft, aber keine echten Gefühle kennt. Schon bald verzweifelt John an der durchkalkulierten Gesellschaft – und hält ihr Shakespeares Gesamtwerk als letzten menschlichen Strohhalm entgegen.
André Kaczmarczyk entwickelt John mit viel Feingefühl von einem anfangs noch naiven Jungspund, hin zu einem clever hinterfragenden, sich in dieser Welt zunehmend unwohl fühlenden Gast. Er und Rosa Enskat können in ihren Rollen schauspielerisch aus dem Vollen schöpfen – und tun dies auch leidenschaftlich. Der Rest des Ensembles bleibt dagegen auf die Darstellung der blassen, künstlichen Marionettenmenschen beschränkt, sodass Huxleys „Schöne neue Welt“ sich in Vontobels Inszenierung vornehmlich mittels Video, Musik und Mikroverstärkung vermittelt. Das gelingt besonders packend, als die „Produktion“ von Muster-Embryonen zum Erhalt des Gleichgewichts in dieser Welt nach Maß erklärt wird.
Jene Passagen, in denen Dialog und Spiel überwiegen, drohen in diesem Regie-Konzept dagegen in Gleichmaß zu versinken. Zu krass gerät oft der Kontrast zwischen multimedialer Bühnenshow und richtigem Schauspiel. Nach der Pause setzt Christian Erdmann dann noch einmal ein paar starke, auch humorvolle Akzente. Er gibt Mustapha Mond, den Erfinder der neuen Welt, als verzweifelt gelangweilten Genius, der zwar zunächst die Mechanismen der totalen Industrialisierung vor John enttarnt, auf seinen Machtanspruch jedoch nicht verzichten will. So bleibt John blutüberströmt und allein zurück. In einer Welt, die er nicht verändern und in der er sich noch weniger zu Hause fühlen kann.
Nicole Czerwinka
Aldous Huxley „Schöne neue Welt“ am Schauspielhaus Dresden, wieder am 21.9., 19 Uhr; 3.10., 15.10., 20.10. und 8.11., 19.30 Uhr