Eindrücke Bürgerbühnenfestival vom 18. Mai
Wenn ich mich umsehe, dann ist der kleine Zuschauerraum prall gefüllt. Ein ganz unterschiedliches, aus allen Generationen und jeder Herkunft stammendes Publikum richtet immer gespannter seinen Blick auf die Bühne (Bernhard Siegl). Auch ich schaue sie mir neugierig an. Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, ich stehe im Kaufhaus vor den Umkleidekabinen. Sieben an der Zahl, auf einem kleinen Podest aufgestellt, über ihnen schmale Täfelchen. Und das soll etwas mit Goethes Allzeitmeisterwerk „Faust“ zu tun haben? Noch immer kommen Menschen hinzu, suchen händeringend die letzten leeren Plätze, damit sie sich die Vorstellung nicht von der Treppe aus oder gar im Stehen anschauen müssen. Die Bühne 3 im Kleinen Haus des Staatsschauspiel Dresden ist wirklich nicht riesig. Aber mehr braucht es auch nicht, denn „Ich armer Tor“ (Foto: PR/Matthias Horn) beginnt und holt den Zuschauer bereits in der ersten Sekunde ab.
Das Licht geht aus und ein Lichtspot wandert von Kabine zu Kabine, wie eine Kugel in einem Roulette. Er bleibt stehen, rien ne va plus, der Vorhang geht auf. Ein Mann auf einem Stuhl, der von seinem Leben berichtet. Nach ihm sechs weitere in den anderen Kabinen. „Habe nun ach…“, beginnen sie alle ihre Vorstellungsrunde und klagen dem Publikum ihr Leid, ihre Erfolge, ihre Geschichte. Und schnell wird klar: So abwegig das Ganze erst wirkte, so steckt doch in jedem dieser Männer ein kleiner Faust. Ein Arzt, ein Pädagoge, ja sogar ein Pfarrer – sie alle stecken wie ihr literarischer Vorgänger in einer tiefen Sinnkrise. Denn nach all den Jahren, nach all den Erlebnissen und den Geschichten, wissen sie doch nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält …
Mit wenigen Mitteln und viel Einfallsreichtum lenkt die Regisseurin Miriam Tscholl die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Schicksale jedes Einzelnen und führt – gespickt mit viel Witz und Ironie – die traurigen Wahrheiten vor Augen. Immer wieder verbinden sich dabei die modernen, persönlichen Passagen mit dem historischen Stück, abwechselnd ist jeder der sieben Männer mal Mephisto, mal Faust, bis irgendwann alles ineinander übergeht, untrennbar voneinander. Denn selbst Gretchen, eigentlich nur literarische Figur, tritt aus ihrer Sphäre heraus und bringt ordentlich Trubel in die Männerrunde.
Auch gestaltungstechnisch wird es nicht langweilig. Durch passende musikalische Untermalung (Jan Maihorn) und geschickt eingesetzte Videoeinspieler entsteht auf der Bühne ein abwechslungsreiches Schauspiel, welches den Namen als solches verdient.
Dass die Darsteller Laien sind, merkt man ihnen nicht an. Denn wer könnte einen Mann in der Midlife-Crisis besser mimen, als jemand, der diese selbst gerade durchlebt? Sie spielen dadurch keinen Fremden, sondern sich selbst, dürfen auf der Bühne das hinauslassen, was sie sonst geflissentlich unter Verschluss halten – müssen? Es ist ein Genuss, ihnen bei diesem Befreiungsschlag zusehen zu dürfen. Er hinterlässt letzten Endes ein Gefühl der Erleichterung und auch des Trostes, denn man erkennt: Mit diesem Problem steht keiner allein da – und das Ende allen Seins ist es ebenfalls nicht. Denn aufgegeben, das haben die sieben Protagonisten noch lange nicht, ist doch schließlich ihre persönliche Wette mit Mephisto längst nicht erfüllt.
Das Publikum applaudiert den Darstellern und Machern der Inszenierung lange, es wirkt beim Verlassen des Raums zufrieden und glücklich. Meine persönliche Anspannung, wie man den genialen Gedanken hinter diesem Stück auf die Bühne bringen will, hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Wenn das an diesem Abend Gezeigte und Geleistete „Bürgerbühne“ ist, so ist das etwas ganz besonderes, etwas Echtes und gleichzeitig irreal Anmutendes, was einen weiteren Blick mehr als wert ist. Denn diese beiden Seiten verbinden sich auf der Bühne zu einem spannenden Neuen und passen zueinander wie die Faust aufs Auge. So scheinen es auch zahlreiche andere Dresdner an diesem Abend zu sehen, denn war vor Beginn des Stückes im Saal darunter noch der Schreibworkshop von Pascal Rambert gut besucht, so ist knappe anderthalb Stunden später gefühlt doppelt so viel Publikum im gleichen Raum, um dem World Café zu „Solo for Lu“ beizuwohnen. Ein großes Interesse an dieser Theaterform liegt augenscheinlich in den Besuchern des Bürgerbühnenfestivals. Und auch ich lasse das Kleine Haus mit dem Gefühl zurück, nicht das letzte Mal dort eingekehrt zu sein.