Parabel auf unsere Zeit

Mit „chasing waterfalls“ bringt die Semperoper die erste mit Künstlicher Intelligenz geschaffene Oper auf die Bühne

Das hat es so noch nie gegeben: Mensch und Maschine schreiben, inszenieren und spielen gemeinsam eine Oper. Mit der Uraufführung von „chasing waterfalls“ – was so viel bedeutet wie „Unfassbares fassen wollen“ – ist der Semperoper zum Spielzeitauftakt ein spektakulärer Coup gelungen. Das unter Einbeziehung von Künstlicher Intelligenz entstandene Stück (Fotos: Daniel Koch) ist bereits Stadtgespräch, noch bevor der erste Vorhang sich hebt – und zwar nicht unbedingt bei jenen, die schon sehnsuchtsvoll nach der „Traviata“-Premiere am 2. Oktober schielen, sondern bei einem Publikum, das bislang eher selten in die heiligen Hallen am Theaterplatz strömt.

Die Frage, um die sich das Stück dreht, ist eine höchst aktuelle, ja geradezu alltägliche: Wer bin ich und welches Abbild meiner selbst erschaffe ich im virtuellen Raum mit meinen Google-Recherchen, Social-Media-Posts oder Onlineprofilen bei Spotify, Netflix, Amazon und Co.? Ferner, wie wirken diese virtuellen Ichs auf unsere reelle Lebenswirklichkeit ein und welche Bilder von uns werfen sie zurück?

Der technische Aufwand für insgesamt lediglich drei Aufführungen in Dresden kommt einem wissenschaftlichen Experiment gleich und ging weit über das hinaus, was eine Opernproduktion klassischerweise an Vorbereitung bedarf. Mit dem Künstlerkollektiv phase7 performing.arts Berlin, dem Studio for Sonic Experiences kling klang klong, dem Komponisten und Dirigenten Angus Lee aus Hongkong, der Autorin Christiane Neudecker und der technischen Unterstützung durch T-Systems MMS ist eine Oper entstanden, die klanglich fasziniert, optisch fesselt und zum Nachdenken bewegt.

Regisseur Sven Sören Beyer öffnet der Künstlichen Intelligenz die Bühne, ohne sie zur Zentralmacht seiner Inszenierung zu erheben. Die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt sind fließend, auch in der Oper, die mit allerhand Wasser und einem ausgeklügelten Lichtkonzept (Bühnenbild: Sven Sören Beyer, Pedro Richter, Licht: Henning Schletter) zum düster sinnlichen Erlebnis wird. Eine Reise in virtuelle Computerräume, der man sich zugleich fasziniert und doch erschrocken hingibt. Dabei ist das 70-minütige Stück keine multimediale Performance – vielmehr der verblüffende Beweis, dass Oper auch unter Einbeziehung von Künstlicher Intelligenz eine packende Geschichte erzählen kann.

Die Hauptfigur ist austauschbar, du, ich, wir alle könnten uns in dieser Geschichte wiederfinden: In deren Zentrum steht das reale Ich, das in der Begegnung mit seinen digitalen Spiegelbildern arg ins Straucheln gerät. Sehen wir es zu Beginn am Login vor dem Computer verzweifeln („Not convinced you are not a robot“ – ja, wir kennen das alle), – so werden wir zum Zeugen einer Konfrontation zwischen dem realen Ich und seinen digitalen Abbildern, die durch die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz eine Art Eigenleben entwickeln und sich für einen bedrohlichen Moment über die wahre Realität zu erheben drohen. Das reale Ich fällt wie durch einen Zufall in diese virtuelle Welt, wo es auf der Suche nach Orientierung seinen digitalen Alter Egos begegnet. Eine Szene lang wirkt das fast wie in einer piefigen Daily Soap: „Sie wissen alles über dich, sogar wo dein Auto steht!“

Für die Hauptpartie hat die Semperoper mit der Norwegerin Eir Inderhaug eine Sängerin gefunden, die nicht nur mit starker stimmlicher Präsenz aufwartet, sondern sich auch gern auf das Experiment eingelassen hat. Denn nicht nur in der Handlung, auch auf der Bühne verschmelzen reale klassische Opernwelt und die von Künstlicher Intelligenz geschaffenen Teile des Librettos und der Partitur teils bis zur Unkenntlichkeit. Startet der Abend zunächst mit einem analogen warmen Celloton (Benjamin Arnold), so verschränken sich die elektronisch komponierten Instrumentalstimmen bald eng mit den Tönen der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Die spielt unter der Leitung von Angus Lee in Kammerbesetzung durchgängig und akzentuiert, wobei der elektronische Ton anders als beim Gesang meist dominiert.  

Die Musik wirkt technisch, kühl, sie entwickelt einen ebenso bedrohlich wie verführerischen Sog, der an einen Science-Fiction-Film erinnert. Neben Eir Inderhaug sind mit Tania Lorenzo, Jessica Harper, Sebastian Wartig, Simeon Esper und Julia Mintzer fünf weitere Sänger auf der Bühne, alle samt starke Stimmen, die allerdings nur punktuell Raum zur Entfaltung bekommen. In diesen Momenten wirken sie recht menschlich. Doch stellen sie eigentlich jene Spiegelwesen dar, die gemacht sind durch das, was wir als digitalen Fußabdruck im virtuellen Raum von uns selbst hinterlassen: das verspielte Kind, der schöne Schein, der zur Schau getragene Erfolg, der innere Zweifel, das kurze Glück. Hinzu kommt schließlich der Algorithmus, also jene Stimme, die durch Künstliche Intelligenz aus Inderhaugs Gesang generiert wird und die in der Lage ist, den Spiegel-Ichs ein Eigenleben zu verschaffen.

Das Konzept (Sven Sören Beyer, Johann Casimir Eule, Christiane Neudecker) trägt. Die Verschränkung der künstlich und analog erzeugten Opernteile wirkt erstaunlich organisch und gelingt fast ohne spürbare Brüche. Inwieweit die künstlich generierten Libretto-Teile tatsächlich poetischen Charakter haben, darüber lässt sich sicher streiten. Insgesamt jedoch ist „chasing waterfalls“ eine gelungene musikalische Parabel auf unsere von digitalen Prozessen durchwobene Lebensrealität, eine Oper, die mit jeder Aufführung neu und anders erscheint, die Kontroversen aufwirft und uns nicht zuletzt auch bitter ironisch den Spiegel vorhält. Experiment geglückt!

Semperoper Dresden „chasing waterfalls“ wieder am 8. September und 11. September 2022

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