Eine Dresden-Geschichte zum 2. Advent
Die Straßen der Neustadt waren mit hellen Lichterketten geschmückt. Das verlieh dem Viertel einen Zauber, wie ihn nur die Weihnachtszeit heraufbeschwören konnte. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, lief ich durch die Stadt, vorbei an liebevoll dekorierten Schaufenstern, in denen Weihnachtswichtel, Schneemänner und Sterne auf die schönste Zeit im Jahr einstimmen sollten. Ich war auf der Suche nach Geschenken und stellte wieder einmal fest, dass die Dresdner Neustadt besondere Faszination auf mich ausübte. Meine Großmutter hatte ihr halbes Leben in diesem Stadtteil verbracht, lange bevor er sich zum hippen Szeneviertel und zur Heimat kreativer Webdesigner entwickelt hatte. Meine Oma konnte aus ihrer Kindheit noch viele Geschichten aus dieser Gegend erzählen, denen ich bis heute gerne lauschte.
Exotische Düfte in einer Seitenstraße
Ich kam an ein Geschäft, von dem aus verführerische Düfte auf den Gehweg strömten. Es war ein Laden in einer engen Seitengasse, ganz nahe der Martin-Luther-Kirche, in dem man Gewürze aus der ganzen Welt einkaufen und probieren konnte. Ein braunes Holzschild hing über der halb geöffneten Tür, durch die ich kurzentschlossen eintrat. Der Duft intensivierte sich drinnen, wo kleine Gefäße fein säuberlich sortiert und beschriftet in den hohen eichebraunen Regalen standen. Die Verkäuferin hinter der Theke nickte mir freundlich zu. Sie war gerade mit zwei Kundinnen beschäftigt, die sich verschiedene Sorten Pfeffer zeigen ließen. Überwältigt von den Aromen und der heimeligen Atmosphäre in dem Geschäft sah ich mich um. Ich stöberte in einem Regal mit Gewürzschokoladen, hielt meine Nase in die Proben von exotisch duftenden Pülverchen und entschied mich wenig später für eine kleine Holzkiste, die an eine Zigarrenschachtel erinnerte und drei Reagenzgläser mit Gewürzpulvern aus Italien enthielt. Das perfekte Geschenk für meine Eltern.
Nachdem ich bezahlt hatte, ging ich weiter zum Martin-Luther-Platz. Die mächtige, alte Kirche, die sich hier in ein enges Karree aus Jugendstilhäusern kuschelte, machte im Licht der Adventsbeleuchtung einen noch stimmungsvolleren Eindruck als sonst. Und während ich darüber nachdachte, wo ich das nächste Geschäft mit außergewöhnlichen Waren finden konnte, denn die Neustadt war reich an solchen Kleinoden, stand ich plötzlich vor einer prächtigen Haustür, die mich auf seltsame Weise in ihren Bann zog. Es war die Nummer 9 und ich erinnerte mich, dass meine Großmutter mir einmal erzählt hatte, hier habe Opi als junger Mann zusammen mit ihr bei seiner Mutter gelebt. Eine Zeitlang nur, bis sie schließlich gemeinsam in eine eigene Wohnung ziehen konnten.
Ich schaute in Gedanken versunken an der Hausfassade hinauf, in Fenster, die mit Sternen geschmückt waren und beleuchtete Wohnzimmer mit schicken Designermöbeln. In diesem Moment öffnete sich die Tür – und ein alter, leicht gebückt gehender Mann im schwarzen Mantel und mit einem schwarzen Hut kam heraus. Er sah mich freundlich an und ich bemerkte, dass ich in zwei blaue, lebendig schimmernde Augen sah, die mir sehr bekannt vorkamen. Vor Schreck hätte ich fast meine Gewürze fallen lassen. Es war der Mann, den ich vor etwa einer Woche im Pavillon am Waldschlösschen getroffen hatte. „Mädchen, wie schön Dich zu sehen“, sagte er sofort und schaute dann prüfend an mir herab. Ich musste in diesem Moment aussehen wie eine Comicfigur: Ich stand da wie versteinert, die Hand, in der ich die Einkaufstüte mit den Gewürzen hielt, baumelte schlaff an mir herab, die andere hatte ich tief in meiner Jackentasche versteckt, die Augen auf den unbekannten Alten gerichtet.
Seltsames Wiedersehen mit einem Bekannten
„Was machen die Erinnerungen? Hast Du inzwischen schon ein paar schöne sammeln können?“, fragte er jetzt. Es lag eine große Güte in seiner Stimme. Es war mir ein Rätsel, wie ein Wildfremder es so gut mit mir meinen, überhaupt wie dies hier alles passieren konnte – und ich schüttelte schüchtern den Kopf, ohne dabei einen Laut von mir zu geben. „Nein? – Weißt Du was, ich helfe Dir ein wenig auf die Sprünge, ich zeige Dir etwas. Komm mal mit!“, sagte er unverwandt. Dann ging er langsam zurück zur Tür und drückte sie auf. Er benutzte dazu keinen Schlüssel. Wie damals an der Elbe, wagte ich es nicht, ihm zu widersprechen. Ich ging ihm einfach hinterher und schlüpfte zur Tür herein, die er mir galant auf hielt. Angst hatte ich seltsamerweise nicht.
Drinnen roch es modrig, die Wände im Hausflur schienen Nässe angezogen zu haben. Sie waren in Grüntönen bemalt, mit goldenen und roten Rankenmustern darin. Es kam mir altmodisch vor, faszinierte mich aber nur umso mehr. Der Mann mit den Zauberaugen führte mich nun die Treppe hinauf, eine breite Treppe mit einem massiven Metallgeländer, das von einem Handlauf aus rötlichem Holz gekrönt war, bis in den ersten Stock. Dort standen wir nun vor einer hohen Flügeltür, auf blank gebohnertem Boden. Hier hatte jemand bei der Hausordnung ganze Arbeit geleistet, er musste wohl Stunden lang mit Wischen beschäftigt gewesen sein. Der Alte schaute mich aufmunternd an, lächelte mir freundlich zu, bevor er dreimal mit der rechten Faust an die Tür klopfte – dann aber, erneut ohne zu schließen, einfach eintrat. Ohne groß darüber nachzudenken, was ich hier tat, lief ich ihm hinterher. Ich hörte vergnügte Klaviermusik aus einem der Zimmer. Irgendwer spielte „Oh, Du Fröhliche“, es war ja auch bald Weihnachten. Wir traten in eine nicht allzu geräumige Wohnstube ein, in der sich wiederum blank polierte, für meinen Geschmack aber altmodische Möbel befanden. Es musste wohl Mahagoni sein. Neben einem Sofa aus plüschigem, ockerfarbenem Velours-Stoff stand ein riesiger Weihnachtsbaum, nahezu überbordend geschmückt mit kunterbunten Glaskugeln, Lametta und – ich traute meinen Augen kaum – echten Kerzen auf den Ästen!
Stollen und Kaffee bei einer Fremden
Die Klaviermusik verstummte. „Da seid ihr ja“, sagte eine hübsche junge Frau, die ein Tablett mit heiß dampfendem Kaffee vor sich hielt und plötzlich vor uns stand. Sie trug ein weit geschnittenes blaues Kleid, die schulterlangen blonden Haare offen und sie kam mir irgendwie bekannt vor. Ich wusste aber nicht, woher. „Zieht eure Mäntel aus und setzt euch, der Martin wird wohl auch gleich da sein“, lud sie uns freundlich ein. War das hier etwa ein geheimes Adventskaffeekränzchen, womöglich auch eine seltsame Selbsthilfegruppe? Der Alte schien mir meine Verwirrung nun anzusehen, denn er zwinkerte mir aufmunternd zu. Wieder fiel mir dabei auf, wie viel magisches Leben in seinen leuchtend blauen Zauberaugen steckte. Sie strahlten voller Freude und wollten irgendwie so gar nicht zu seiner gebrechlichen Gestalt passen. Er setzte sich dann an einen runden Tisch, der gleich neben der Zimmertür links stand – ohne seinen Mantel auszuziehen. „Setz Dich, Mädchen“, sagte er aufmunternd. Ich hätte ja so gern gefragt, was das hier alles soll, was wir hier sollten. Doch ich tat, wie schon so oft in seiner Gegenwart, wie mir geheißen, ohne weiter nachzuforschen. Im Gegensatz zu ihm legte ich jedoch die Jacke über die Stuhllehne und verstaute die Tüte mit den Gewürzen neben mir, bevor ich am Tisch Platz nahm.
Ich schaute hinüber zu dem großen Bücherregal, das fast den ganzen Raum dominierte, dann wieder zu dem Weihnachtsbaum mit den flackernden Kerzen und sah vor dem Fenster den Turm der Martin-Luther-Kirche, der aus dieser Perspektive wie ein großer, schützender Freund wirkte.
Die Schöne im blauen Kleid tafelte Kaffee und Stollen auf. Es schmeckte köstlich. Auf dem Tisch drehten sich drei Holz-Rehe auf einer erzgebirgischen Pyramide im Kreis, während die Blonde mit dem Alten ein auf mich eher banal wirkendes Gespräch über Milchpreise und die neue Ausstellung in den Kunstsammlungen anzettelte. Ihre Stimme klang glockenhell und zart wie die eines Engels. „Martin muss wahrscheinlich wieder länger arbeiten“, meinte sie bald ein wenig geknickt. Der Alte zuckte darauf hin kaum merklich mit den Schultern. Ich sagte nichts, hörte einfach nur zu und wurde auch nie etwas gefragt. Doch ich fühlte mich seltsam wohl an diesem Platz, irgendwie geborgen. Ich konnte es selbst nicht so recht erklären. Ich schaute hinüber zu dem großen Bücherregal, das fast den ganzen Raum dominierte, dann wieder zu dem Weihnachtsbaum mit den flackernden Kerzen und sah vor dem Fenster den Turm der Martin-Luther-Kirche, der aus dieser Perspektive wie ein großer, schützender Freund wirkte.
Irgendwann schaute der alte Mann aus seinen Zauberaugen zu mir herüber, nickte und erklärte: „So, wir müssen jetzt los!“ Die Schöne erhob sich mit uns und verabschiedete uns höflich. Sie hatte nie auch nur gefragt, wer ich eigentlich bin. Und so liefen wir durch das blank gebohnerte Treppenhaus nun wieder nach unten, der alte Mann mit seinem Stock dicht neben mir – worauf ich mir endlich ein Herz fasste und fragte: „Was war das jetzt eigentlich? Wer war diese Frau?“
Ich sah den Anflug eines Lächelns über das Gesicht des Alten huschen, bevor er sagte: „Das ist doch egal, es ist jetzt Erinnerung!“ Er sagte es mit Nachruck, doch ich verstand nicht. Ich fragte weiter: „Nur, wenn die Erinnerungen so wichtig sind, wie Sie behaupten, dann muss ich doch wissen, worum es sich hier handelt!“ Ich gebe zu, ich war ein bisschen aufgebracht. Und es klang vielleicht härter, als ich es beabsichtigt hatte.
Halte die Erinnerung an diesen Nachmittag fest, behalte sie im Herzen! Glaub mir, Du wirst sie noch brauchen“, sagte der seltsame Alte mit den Zauberaugen.
„Wichtig? Oh, das sind sie! Und deswegen, mein Mädchen, bewahre sie gut. Halte die Erinnerung an diesen Nachmittag fest, behalte sie im Herzen! Glaub mir, Du wirst sie noch brauchen – und jemand anderes vielleicht auch.“ Wir waren unten an der schweren Haustür angelangt. Er öffnete sie und ging genau in dem Moment, in dem ich ihn fragen wollte, wer er denn eigentlich sei, hinaus, ohne auf mich zu warten. Ich war verwirrt und stolperte ihm verzweifelt hinterher. Doch als ich auf den Martin-Luther-Platz trat, der jetzt im Dunkel lag, nur erhellt vom schummrigen Schein der Adventslichterketten, war der Alte verschwunden.
Ich spürte den Drang, ihm nachzulaufen, wollte ihn manches fragen, rannte nun um die Kirche, suchte und fluchte. Doch er war nicht mehr da. Da lief ich in die nächstbeste Gasse, irgendwo musste er doch sein. Der Wind sauste in den Ohren, dröhnte in meinem Kopf. Er schnarrte jetzt richtig, schnarrte laut und immer lauter – und dann wachte ich plötzlich auf.
Das geheimnisvolle Notizbuch der ErinNerungen
Jetzt identifizierte ich das Schnarren als den Weckton meines Handys, das wie immer auf dem Nachttisch lag. Und als ich danach greifen wollte, da sah ich daneben die Tüte mit den Gewürzen stehen und ein Buch liegen, das ich nicht kannte. Ich nahm es in die Hand, blätterte neugierig darin. Es war ein leeres Notizbuch. „Halte die Erinnerung fest, behalte sie im Herzen. Glaub mir, Du wirst sie noch brauchen – und jemand anderes vielleicht auch“, hörte ich den Alten im Geiste wieder sagen. Da stand ich auf, holte meinen Füllfederhalter aus dem Schreibtisch und schrieb die Erinnerungen dieser Nacht in das fremde Notizbuch.
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