Warum diese Tage des Stillstands vielleicht die schönsten in unserem Leben sein könnten
Es klingt verrückt, aber in zehn Jahren werde ich diese ereignisreichen Tage vielleicht als eine der schönsten Zeiten meines Lebens in Erinnerung haben, obwohl sie zu den unglaublichsten zählen, die wir alle bislang erlebt haben. Seit einer Woche sind in Dresden und überall auf der Welt alle Theater und Konzertsäle geschlossen. Sukzessive mussten auch Museen, Schulen, Kitas, Geschäfte und zuletzt Gaststätten den Betrieb aussetzen. Ausgangssperre ist das Schreckenswort der Stunde. Nicht nur in Dresden.
Die ganze Welt steht still, verharrt im Blick auf die Zahlen, die beständig nach oben klettern. Niemals hatte ich mir vorstellen können, dass das öffentliche Leben eines freiheitlich demokratischen Staates in nur wenigen Stunden auf null gefahren werden könnte. Ganz ohne Terroranschlag oder Krieg, sondern ausgelöst durch einen Virus, der uns in exponentieller Geschwindigkeit das Fürchten lehrt und Existenzängste heraufbeschwört. Beim Blick auf News und Pressekonferenzen wurde mir in der vergangenen Woche abwechselnd heiß und kalt.
Von einer Minute auf die andere fühlt sich das Leben an wie ein Science-Fiction-Film, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Keiner kann heute sagen, wann dieses diffuse Gefühl der Fassungslosigkeit aufhört oder wo der Ausschalter liegt, mit dem wir diesen Film stoppen könnten. Wer kann, bleibt zu Hause. Und nun sitze ich mitten in der Nacht mit dem Laptop auf dem Schoß im Bett, was ich gefühlt seit dem Auszug bei meinen Eltern vor 15 Jahren nicht mehr getan habe. Ein vergleichsweise harmloses Beispiel dafür, wie sich unser Alltag in diesen sieben Tagen auf wunderliche Weise verändert hat.
Dennoch: Es geht uns gut! Seit einer Woche sind wir im Homeoffice, wir kochen wieder selbst und gehen täglich spazieren, um die Köpfe freizubekommen. Es ist Frühling, die ersten Bäume blühen, an fünf von sieben Tagen diese Woche hat uns die Sonne mit ihrer Wärme begleitet. Die regelmäßigen Kulturerlebnisse haben wir durch Bücher und Serien aus der Mediathek ersetzt. Wenn die Arbeit erledigt ist, blogge ich oder arbeite an meinem Romanmanuskript, das seit dem Sommer im Kasten schlummert.
In den vergangenen Tagen hat sich vieles verändert, aber nicht alles ist schlechter geworden. Noch nie habe ich so oft und ausgiebig mit Freunden, Familie und Kollegen telefoniert wie in dieser Woche. Man fragt wieder „Wie geht es dir?“, ohne es einfach nur dahin zu sagen. Das kurze Gespräch mit der Nachbarin im Hausflur ist plötzlich so wertvoll. Kurz darauf klingelt es an der Tür und sie reicht uns (Mit dem gebührenden Abstand versteht sich, nein, wir feiern hier keine Corona-Partys, wirklich nicht!) zwei frisch gebackene Zimtschnecken herein. Ich bin gerührt und ärgere mich zugleich, weil ich vor zwei Wochen nicht ebenfalls dem Impuls gefolgt bin und den Nachbarn zwei Stück von meinem Geburtstagskuchen rüber gereicht habe. Kaffee und Kuchen und Liebe im Magen. Mit den Kollegen entspinnen sich plötzlich humorvolle Chats. Wir lachen viel in diesen Tagen – und nicht etwa nur aus Galgenhumor!
Hat schon jemand bemerkt, wie nett die Menschen auf einmal sind? Selbst die ruppige Verkäuferin vom Bäcker um die Ecke hatte heute ein Lächeln auf den Lippen. Jede Krise hat etwas Gutes. Wo Schatten fällt, muss immer auch irgendwo Licht sein. Wenn alles stillsteht, sind wir gezwungen, uns wieder auf das Wesentliche zu fokussieren. Wir teilen unsere Zeit bewusster ein, nehmen vieles deutlicher wahr. Wie gut es uns geht, wie schön unsere Straße bei Sonnenschein ist – und wir lernen, auch aus Regentagen das Beste herauszuholen, statt bloß zu meckern. Es geht uns gut, auch wenn die Grenzen zu sind, unsere Straßen leer und die Summe auf dem Gehaltsschein von morgen noch ungewiss.
Wir sind sozial isoliert, aber nicht allein. Anders als die Generationen vor uns, die Kriege, Diktaturen und soziale Not durchlebten, sind wir heute täglich verbunden mit der ganzen Welt. Wir können nach New York telefonieren oder mit Freunden in Norwegen chatten, und erfahren dabei, dass es ihnen ähnlich geht wie uns. Ein tröstliches Gefühl. Alles nicht so schlimm also. Wir machen uns gegenseitig Mut. Jede Krise hat irgendwann ein Ende. Dem Winter folgt der Frühling, dem heißen Sommer meist ein milder Herbst … Die Zeit vergeht uns meist zu schnell. Jetzt, wo fast alles stillsteht, haben wir die einmalige Chance, sie festzuhalten. Wir sollten sie nutzen! Das Beste daraus machen.
Morgen feiern wir beide unseren 8. Hochzeitstag. Anders als sonst können wir diesmal nicht ins Restaurant oder Kino gehen. Wir werden stattdessen auf unserem Spaziergang Buntspechte beobachten, Eis aus dem Tiefkühlfach essen, zur Feier des Tages eine Flasche Champagner köpfen, uns in die Augen sehen und einfach glücklich sein. Dankbar für acht schöne Jahre und die intensive gemeinsame Zeit, die uns ausgerechnet ein fieser kleiner Virus gerade schenkt. Bald schon werden wir darüber lachen. Wir können sagen, das haben wir auch gemeistert – und ich bin sicher: Wir werden all den Ballast und die Sorgen dieser Tage vergessen haben und sie als eine der schönsten Zeiten unseres Lebens für immer im Herzen tragen.
Ein Kommentar
Sehr schön geschrieben, liebe Nicole. Auch wir genießen sehr die Zeit zusammen und meine Entrumpelungsaktion a la Marie Kondo schreitet dank Corona gut voran. Nichtsdestotrotz bleibt die Sorge wie das alles während und nach der Krise funktionieren soll. Aber hoffen wir das Beste. Das Glas ist halbvoll… Immer.