Das OFF-Projekt szene12 spielt „La Bohème“ im Zentralwerk – eine Reportage
Der Putz blättert von der gelben Kassettendecke, unter der die jungen Stimmen gewaltig durch den Raum hallen. Das Zentralwerk am Rande der Großenhainer Straße erstrahlt in morbidem Charme und hat sicher schon bessere Zeiten erlebt. Doch seit hier die Proben für das diesjährige szene12-Projekt begonnen haben, herrscht Leben in dem alten Gemäuer. Das Team der Dresdner OFF-Opern-Gruppe hat es sich in dem Saal schon gemütlich eingerichtet. Requisiten liegen vor der Bühne – Bierflaschen auf Tischen, Bücher, eine Matratze. Oben gibt es einen kleinen Tisch mit Essbarem: Nudeln, Kaffee, Schokolade. Da, wo später die Zuschauer in der ersten Reihe sitzen, steht jetzt das Regiepult.
Toni Burghard Friedrich kommt gerade von der Mittagspause zurück und begrüßt sein Team, das nach und nach eintrudelt. Draußen scheint die Sonne, drinnen proben die Sänger jetzt täglich für Puccinis „La Bohème“. Während oben auf der Empore eine Kanne Kaffee durchläuft, übt sich die Repetitorin unten schon am Keyboard ein. Der Regisseur trifft letzte Absprachen mit den Sängern. Der Verein szene12 hat es sich 2012 zum Ziel gesetzt, in Dresden unkonventionelle Opern mit jungen, unverbrauchten Stimmen aufzuführen – und in diesem Konzept jedes Jahr ein bisschen zu wachsen.
Angefangen hat das Ganze im Labortheater der Hochschule für Bildende Künste. Finanziert wird es durch die Vereinsbeiträge und eine Sammelaktion auf der Internetplattform Startnext. Kostüm- und Bühnenbild entwerfen Studenten der Kunsthochschule. Orchester und Sängerensemble sind in diesem Jahr so international wie noch nie. Annika Steinbach aus Leipzig singt die Mimi, für die Partie des Rudolfo hat das Opernteam den Sänger Luke Sinclair aus London eingeflogen. Das Uniorchester aus Oxford macht die Musik. Sie alle wohnen während der sechs Probenwochen auf mehrere WGs verteilt in der Neustadt. „Es herrscht ein Wohlfühlklima in dem Team“, sagt Annika Steinbach begeistert. Sie studiert an der Hochschule Felix Mendelssohn Bartholdy Gesang und ist durch ein Vorsingen zu szene12 gekommen.
Draußen scheint die Sonne, doch nun wird die Tür geschlossen. Es geht los. Geprobt wird heute die erste Szene im dritten Akt. Immer und immer wieder müssen die Sänger dazu von vorn beginnen, Positionen und Gesten korrigieren. Toni Burghard Friedrich achtet als Regisseur auf jedes Detail. Der Kaffee dampft in den Tassen, während seine Assistentin akribisch mitschreibt. Laptop, Handy, Skript und Noten vor sich ausgebreitet. Die Stimmung ist gut, konzentriert fröhliche Arbeitsatmosphäre. Nach etwa 30 Minuten läuft die Szene zum ersten Mal durch – es ist musikalisch eine der schönsten in der Oper. Passt. Pause.
Inzwischen ist auch Luke Sinclair im Zentralwerk eingetroffen. Er hat in Glasgow studiert und liebt die deutsche Musiklandschaft, erzählt er in der kurzen Probenpause vor der Tür. „Die Deutschen sind entspannter und experimentierfreudiger als die Briten“, sagt er in klarem britischem Englisch. Den Rudolfo hat er zuvor bereits in Rheinsberg gesungen, ebenfalls auf Deutsch, doch szene12 sei anders. „Das ist ein ganz besonderes Projekt und Toni hat eine großartige Vision für die Oper“, so der Sänger. Nur wenige Minuten später fällt die Eingangstür im Zentralwerk abermals knarrend ins Schloss. Luke Sinclair liegt nun als Rudolfo auf der Matratze vor der Bühne, taumelt zum Tisch und gießt sich Bier statt Kaffee ein, dann beginnt er zu singen. Ein wahrer Gänsehautmoment.
Doch auch jetzt ist Toni Burghard Friedrich noch nicht zufrieden. Auf Englisch versucht er dem Sänger zu erklären, in welcher Situation sich Rudolfo befindet, was er fühlt – und wie es für den Zuschauer spürbar werden sollte. Wieder von vorn. Nochmal. Nochmal. Und noch einmal. Die Helferinnen am Regiepult zücken indes ihre Handys, um die Proebenszenen festzuhalten. Kostüme und Orchester kommen erst später. Zunächst geht es darum, den roten Faden für die Handlung zu bauen. Schnitt. Nächste Szene. Luke beginnt zu singen, Toni unterbricht nach wenigen Minuten. Wiederholung. Ein Stück entsteht. Zwei Stunden, drei Szenen. Oper ist ein hartes Brot, aber mit viel Liebe zubereitet.
Die Premiere für die vierte Szene12-Produktion ist am 22. September im Zentralwerk Pieschen. Der Ort ist Programm mit seinem bröckelnden Putz und dem schäbigen Charme einer Industriebaracke. Hier hätten sich Puccinis Bohèmiens gewiss wohl gefühlt, ebenso wie das szene12-Ensemble, das sich längst an die Kühle der Mauern und das düstere Licht der großen Glühbirnenkronleuchter über dem Saal gewöhnt hat. An der Tür hängt ein Zettel, der schon auf die sechs „La Bohème“-Vorstellungen verweist. Drinnen hallt der Gesang durch den Raum, immer und immer wieder, bis jede Szene sitzt.