Seelendrama mit Showeffekten

Musikalisch famos, inhaltlich herausfordernd: Sondheims Musical „Follies“ an der Staatsoperette Dresden

Ein Tanzensemble, dreißig Jahre – und viele geteilte Erinnerungen. Kurz gesagt sind das die Fäden, aus denen Stephen Sondheim und James Goldman 1971 ihr Musical „Follies“ (Fotos: Vincent Stefan) strickten. Das Stück ist in mehrfacher Hinsicht revolutionär für das Genre: Mehr Show als Theater verbindet es die famose und vielschichtige Musik Sondheims mit einem teils düster-bitterem Figurenpsychogramm. Denn als die Tänzerinnen eines alten Revuetheaters 30 Jahre nach dem Beginn ihrer Karriere an ebenjenem Ort wieder zusammentreffen, werden allerhand Erinnerungen wach, die, verklärt im hellen Licht der Scheinwerfer von damals, verpasste Chancen und unerfüllte Sehnsüchte ans Tageslicht fördern.

Regisseur Martin G. Berger hat das zuletzt 1991 in Deutschland gespielte Werk für die Staatsoperette Dresden ins Deutsche übertragen und zeigt es im Kraftwerk Mitte auch als Replik an die Geschichte des Hauses. Hier sieht man die vier Protagonisten des Abends zunächst via Videoprojektion (Vincent Stefan) vor der alten Spielstätte in Dresden-Leuben stehen, wo sie ihre Zeitreise in die Vergangenheit antreten. Diese inszeniert Berger mit allerhand Sinneszauber: Aufwendige Ballette (Choreografie: Marie-Christin Zeisset), opulente Showszenen und glamouröse Kostüme (Esther Bialas) erinnern an die verschwenderische Showtradition am Broadway, deren legendäre „Follie“-Revuen als Folie für das Stück dienten. Der Zauber wirkt auch an der Staatsoperette sofort: Sondheims großartige Musik lässt manche Länge im Text vergessen, bei Nummern wie „Spieglein, Spieglein“ brodelt der Saal. Mit großem Ensemble geht es mitten hinein ins Leben von vor 30 Jahren. Diese Zeit wird dank doppelter Besetzung der Hauptfiguren mit ihrem jeweils jüngeren Alter Ego auf der Bühne wahrhaft lebendig, auch Trabant und Frauenkirchenruine dürfen als Kulisse (Bühne: Sarah-Katharina Karl) nicht fehlen.

Wehmütiger Rückblick in die 1980er: „Follies“ an der Staatsoperette

Im Zentrum stehen zwei Paare, die überraschende Wandlungen durchlaufen: Die lebenshungrige Sally und ihr Mann Buddy und die schöne, kühl distanzierte Phillys mit ihrem reichen Partner Ben. Im Spiegel der Erinnerungen werden ihre Beziehungen auf eine harte Probe gestellt, einst gefällte Entscheidungen gehörig durchgerüttelt und Zweifel an der Gegenwart bestärkt. Im Grunde hat dies nichts mit einer unbeschwerten Revue gemein. Während die ehemaligen „Girls“ in alte Kostüme und Nummern schlüpfen, entpuppt sich das Spiel hinter dem Vorhang als einziges großes Seelendrama.

famose Ballette und großartige Musik

Da ist zum einen die naive Träumerin Sally. Frederike Haas zeigt sie in all ihrer Zerbrechlichkeit und entschlossenen Vehemenz, mit der sie beständig der Illusion einer Hochzeit mit Phillys Mann Ben hinterherrennt. Schon in den ersten Tönen Sallys klingt ihre Sehnsucht nach der Vergangenheit an, danach, einmal etwas richtig zu machen. Die pragmatische Phillys bleibt dagegen ganz bei sich und ihrer streng antrainierten Selbstsicherheit. Franziska Becker zieht in dieser Partie alle Register, sie lässt Phillys Leidenschaft allmählich erwachen, entwickelt sie schließlich zur erotischen Furie, die sich von Ben lossagt und ihm in einer großartigen Racheszene am Ende gehörig die Meinung geigt. Sie macht das so packend, dass man die düstere Melancholie, das ewige Zweifeln, das Zaudern, die stets wie ein Damoklesschwert über den Figuren schweben, für einen weiteren Moment vergisst. Auch Bettina Weichert, die als Carlotta im Vierergespann außen vor scheint, allein durch alte Affären darin verstrickt, lässt es als alternde Diva mit dem fast rockigen Stück „Bin noch hier!“ gehörig krachen. Nicht zu vergessen Christian Grygas als treudoofer Buddy und Marcus Günzel als stiller Frauenheld Ben, die ihrerseits einen Kampf um die Frauen austragen.

Nein, musikalisch wie darstellerisch bleiben hier wirklich keine Wünsche offen. Das Orchester und das Ensemble der Staatsoperette Dresden bescheren mit ihrem inspirierten, mitreißenden Spiel viele prickelnde Momente. Zu verdanken ist das auch der Musik, denn Dirigent Peter Christian Feigel kann bei Sondheims zwar leichtfüßigen, aber nie simplen Kompositionen stets aus dem Vollen schöpfen: Ob Jazz, Filmmusik, Swing oder schwelgende Songs – die Erinnerungen an rosige Zeiten schillern in mannigfaltigen Farben, sie verführen mit schmissiger Unbeschwertheit und lassen doch an Tiefe und Doppelbödigkeit nichts vermissen.

Auch ein bisschen Ostalgie darf nicht fehlen.

Besonders im zweiten Teil jedoch offenbaren sich Brüche in der Stückkonzeption. Das Musical wird hier bei der Präsentation der „Follies“, beinahe surrealer Traumvisionen der Protagonisten, vollends zur Show und die Handlung verliert Faden wie Ziel. Regisseur Martin G. Berger rettet sich mit Humor und Unterhaltungseffekten, was funktioniert, aber zugleich irritiert. Problem ist die psychologische Dimension des Stückes, um die die Handlung kreist wie ein Gedankenkarussell, ohne dabei wirklich fortzuschreiten. Fernab vom Broadway der 1970er Jahre lässt sich das für heutige Sehgewohnheiten selbst durch überzeugende Darsteller, pfiffige Regieeinfälle, famose Melodien und ein phantastisches Orchester nur teilweise abfangen. So bleibt am Ende die Erinnerung an schöne Melodien womöglich das einzige, was von diesem Abend in 30 Jahren überdauern wird.

Info: Stephen Sondheims „Follies“ an der Staatsoperette Dresden wieder am 5., 6., 21., 22. November

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