Kindheit im Regen

Simon Solberg inszeniert „Rabenliebe“ am Kleinen Haus Dresden

Sie sind alle gleich: In graue Anzüge gepackt und mit grauen Bommelmützen behütet stehen sie in einem ebenso grauen Raum und versuchen langsam das Wort „Mama“ auszusprechen. Der kleine, vierjährige Junge, der in den 50er Jahren in einem Kinderheim abgegeben wurde, weil seine Mutter von der DDR aus gen Westen türmte, unterscheidet sich kaum von den anderen. Er ist klein, ein bisschen zurückgeblieben und er redet manchmal mit den Vögeln. Sonst sagt er kein Wort.

Weiterlesen

Fade Endzeitlethargie

Drei Schwestern Staatsschauspiel Dresden
Drei Schwestern an einem langen Tisch der Langeweile …

Tschechows „Drei Schwestern“ am Schauspielhaus

„In Moskau blüht Anfang Mai alles.“ – In Moskau, da ist sowieso alles besser als in der russischen Provinz. Das ist auch der Grund, warum es Anton Tschechows „Drei Schwestern“ (1901) nach Moskau drängt. Doch Olga, Mascha und Irina kommen dennoch nie dort an. Hausregisseur Tilmann Köhler inszeniert diesen Klassiker, der 1901 – vier Jahre vor der Russischen Revolution – seine Uraufführung feierte, nun für das Staatsschauspiel in Dresden. Es ist ein zeitloses Stück, das von der Lethargie des unmittelbar bevorstehenden Untergangs erzählt – widergespielt in den Charakteren der Figuren, die wiederum nur von sich selbst reden, anstatt mit anderen in Dialog zu treten.

Weiterlesen

Menschmaschine versus Rebellion

Sophokles „Antigone“ am Staatsschauspiel Dresden

Eine Videoleinwand, jemand liest die Ödipus-Sage. Unten raucht die Erde, der Krieg ist vorbei. Doch der frisch gekrönte König Kreon möchte Kraft seines neuen Amtes Polyneikes nicht bestatten lassen, dessen Bruder Eteokles hingegen schon. Beider Schwester Antigone ist das nicht recht. Mitten im Trümmerfeld steht sie, eine großköpfige Puppenfigur namens Ismene schüttelnd – denn sie will mit ihr den Bruder heimlich begraben. So geraten Antigone und Kreon also in Streit.

Weiterlesen

Im Bann der Sinnlichkeit

„Emilia Galotti“ am Staatsschauspiel Dresden

„Verführung ist die wahre Gewalt“, sagt „Emilia Galotti“ in Gotthold Ephraim Lessings gleichnamigem Trauerspiel (1772). Und auch Sandra Strunz verführt mit ihrer Inszenierung des Klassikers, die am Sonnabend (5.10.) im Schauspielhaus Dresden Premiere feierte, die Besucher. Strunz lässt das Stück zu einem sinnlichen, bildstarken Theatererlebnis werden, transportiert den Stoff um Macht, Gewalt, Verführung und Freiheit geschickt auf eine moderne Bühne, ohne dass die Vorlage Schaden nimmt.

Allein die Kulisse (Volker Hintermeier) ist betörend, geheimnisvoll und faszinierend zugleich. Ein großes Metallgerüst erfüllt die Bühne. Türen aus verspiegeltem Glas schwanken auf und wieder zu, werden zum Spiegel, Schaufenster oder tiefem Schlossraum. Das Licht ist mal dämmrig, mal gleißend metallisch. Anfangs können sich die Zuschauer noch selbst im Spiegel sehen, später werden sie von diesem Bühnenbild förmlich hineingezogen in das verhängnisvolle Machtspiel des Prinzen.

Zunächst jedoch betritt Lea Ruckpaul als Emilia die Bühne. Zerbrechlich, fast wie eine Porzellanpuppe wirkt sie am Anfang, entwickelt sich jedoch bald hin zu einem ungestümen Teenager, der dem Werben des Prinzen am liebsten sofort verfallen würde, sich aber dann für ihren Verlobten Appiani (Christian Clauß) entscheidet. Der Prinz jedoch möchte die junge Emilia unbedingt für sich gewinnen und arrangiert mit seinem Kammerherrn Marinelli – Ben Daniel Jöhnk gibt ihn als schleimigen Gehilfen im Ganzkörperanzug – einen Überfall auf die Hochzeitskutsche, um Emilia zu entführen.

Sebastian Wendelin ist ein selbstgefälliger Prinz, eine Art aalglatter und skrupelloser Seelenfänger. Der musikalisch inszenierte Schrei diverser Frauen auf seinem Schoss gehört zu den einprägsamen Momenten der Inszenierung. Rainer Süßmilch hat eine rauschhafte Musik geschaffen, die das Spiel auch an dieser Stelle stimmungsvoll würzt, wobei Luisa Mühl am Schlagzeug gelungene Akzente setzt. Die Spiegelfenstertüren geben nun einen diffusen Blick auf den hinteren Teil der Bühne frei, dort findet eine Art Maskenball statt, tanzen und räkeln sich puppenhafte Frauen mit Federbüschen und langen, transparenten Röcken. In ihrer Mitte der Prinz, in blauem Hemd und einer merkwürdigen, aus schwarzem Spitzenstoff gefertigten Hose (Kostüm: Daniela Selig). „Kann sein, ich habe euch wirklich geliebt“, lamentiert er, doch nun ist Emilia das Objekt seiner Begierde.

Sie scheint sich dem prunkvollen Rausch auf diesem glänzenden Schloss schnell zu ergeben, lässt sich vom Prinzen ihr Hochzeitskleid nehmen und den nackten Körper mit goldener Farbe einpinseln. Anders ist da die Gräfin Orsina (Karina Plachetka) gestrickt, die bisherige Geliebte des Prinzen. Nur sie kann seinen tentakelhaften Anziehungskräften offenbar entfliehen, während Emilia und selbst ihre Eltern machtlos bleiben. Tom Quaas und Christine Hoppe nimmt man das besorgte, auf den Ruf und das Wohl der Tochter bedachte Elternpaar gern ab. Hoppe ist dabei eher die selbstverlorene Lady, während Quaas als polternder, aufbrausender, am Ende aber doch hilfloser Vater auftritt.

In den letzten Szenen ähnelt das Schloss dann plötzlich einer Art Fotomodell-Schmiede, die Spiegel werden kurzzeitig zu Schaufenstern, in denen sich eine eigentlich tote bunte Welt bewegt, gruselig und faszinierend zugleich. Und Lea Ruckpauls Emilia ist jetzt nicht mehr zerbrechlich oder ungestüm, sondern eher verzweifelt. Hin und hergerissen zwischen der Verführungskunst des Prinzen und dem Kampf um Freiheit bittet sie ihren Vater – und hier wird es richtig berührend –, ihr das Leben zu nehmen.

Nach gut zwei Stunden senkt sich der Vorhang über dem tausendfach inszenierten Trauerspiel. Bei aller Sinnesverführung durch die Bühnenspiegelbilder bleibt nach dem aus heutiger Sicht völlig unverständlichen Ende dennoch ein verblüfftes Fragezeichen: Warum tötet ein Vater seine Tochter? Gerade darin liegt aber vielleicht die Stärke dieser Inszenierung, dass sie Andeutungen gibt, die Raum für (auch heutige) Interpretationen lassen, jedoch niemals so konkret wird, dass Lessings Text leidet.

Lessings „Emilia Galotti“ am Schauspielhaus Dresden, wieder am 07.10., 16.10., 14.11., 26.11., 28.12., 08.01. und 15.01., jeweils 19.30 Uhr

Weiterlesen

Sex versus Satire

Erich Kästners „Fabian“ am Kleinen Haus

Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise, als Werbetexter missbrauchte (wahrscheinlich unterbezahlte) Germanisten, individuelle Orientierungslosigkeit – die Gesellschaft, die Erich Kästner in seinem Roman „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ (1931) zeichnete, scheint uns auf den ersten Blick seltsam vertraut. Dabei wollte Kästner mit diesem Großstadtroman ursprünglich ein durch und durch ironisches Gesellschaftsbild Berlins am „Vorabend“ der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers zeichnen. Felicitas Zürcher und Regisseurin Julia Hölscher stellen in ihrer Theaterfassung der Geschichte dennoch Zitate von aktuellen Zeitungsmeldungen an den Anfang.

Weiterlesen

Gespaltene Erinnerungen

Geteilter Himmel, Staatsschauspiel Dresden
Dreifache Rita, halber Spaß unter geteiltem Himmel in der Regie von Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden (Foto: PR/David Baltzer).

„Geteilter Himmel“ am Staatsschauspiel

Eine erwachsene Dame im grünen Kleid sitzt am Rand der Dresdner Schauspielhausbühne im hellen Licht. Mit der entspannten Geste der Erfahrung blickt sie auf ihr Leben zurück und fragt: „Wäre ich unter anderen Verhältnissen ein anderer geworden?“ Eine Frage, die sich wohl die allermeisten in diesem Raum, in Dresden im Jahr 2013, selbst schon gestellt haben. Es ist die Schlüsselfrage des Abends, eine ebenso persönliche wie politische Frage, deren Antwort immer irgendwo zwischen Hoffnung und Realität schwebt und nie richtig sein kann. Diese Frage ist auch der Schlüssel zu Felicitas Zürchers und Tilmann Köhlers Bühnenfassung von Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ (1963), die am 19. Januar – 50 Jahre nach Erscheinen des gleichnamigen Buches – im Dresdner Schauspielhaus Uraufführung feierte.

In der Dresdner Bühnenfassung wird Wolfs berühmte Erzählung von dem Ende einer Liebe vor dem Hintergrund der Deutschen Teilung zu einem Konglomerat aus Erinnerungen. Der Prolog zu dieser Inszenierung entstammt Christa Wolfs Romanen „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ (2010) und „Nachdenken über Christa T.“ (1968) und erweitert die eigentliche Erzählung um die Perspektive der heutigen, erkennenden Rückschau. Diese Rückschau, auch das Verschwimmen von Erinnerungen mit fortschreitender Zeit wird zum vorherrschenden Thema des Abends. Regisseur Tilmann Köhler stellt dabei gleich drei Rita-Figuren gegenüber. Er ergänzt die beiden bereits in der literarischen Vorlage angelegten Erzählebenen, die aktuelle Rita im Krankenhaus (Annika Schilling) und das frühere „Mädchen Rita“ (Lea Ruckpaul), also noch um eine dritte: die heutige Rita, verkörpert durch Hannelore Koch, die auch schon den Prolog zum Stück sprach.

Vor dem Schatten der Romanhandlung, die ja von einem jungen, geteilten Liebespaar handelt, wechseln die Erinnerungen der Figuren wie bunte Traumfetzen auf der Bühne. Mal spricht die Rita im Krankenhaus schwer atmend vom Erlebten, mal spielt das noch unbeschwerte Mädchen zusammen mit ihrem Manfred fangen, dann wieder blendet die heutige Rita ihre Erinnerungen an längst vergangene Tage ein. Immer wieder blickt die Inszenierung vor und zurück, wechselt dabei die Perspektiven der Rückschau auf das Erlebte. Ernsthafte Szenen wechseln mit komischen Situationen und Luftballons werden zu bunten Botschaftern vergangener Illusionen. Mal hängen die Wolken des einfachen, weißen Tuch-Himmels über der schrägen Bühnen-Ebene (Karoly Risz) höher, mal fallen sie tief und drohen die Figuren in ihrer modern bequemen Alltagskleidung (Kostüm: Susanne Uhl) fast zu ersticken. Zwischendurch dient das riesige Himmelstuch wieder als Fläche für geträumte Videoprojektionen, während sich der sonst leere Bühnenraum erneut mit Geschichten füllt.

Unter diesem Zelthimmel spielt jeder uns alle und hin und wieder auch Christa Wolf. So rackert sich Lea Ruckpaul beispielsweise beständig daran ab, in der Rolle des „Mädchens Rita“ endlich erwachsen zu werden. Sie zeigt dabei über weite Strecken eine schlecht dosiert selbstbewusste Rita, gibt sich als zartes 19-jähriges Mädchen eher grob als weiblich und spielt die von Christa Wolf als emotional beschriebene Figur mit erstaunlich kühler Distanz. Alle Emotionalität, alle Verzweiflung, aber auch selbstbewusste Entschlossenheit der Rolle bleibt dagegen Annika Schilling überlassen, die als immer noch junge, aber nach der Flucht ihres Verlobten Manfred im Krankenhaus liegende Rita, aus kurzem zeitlichen Abstand auf ihre Liebesgeschichte zurückblickt. Schilling nimmt den Zuschauer ebenso mit in ihre Geschichte hinein, wie die bedächtig aus der zeitlichen Distanz und heutiger Erfahrung zurückschauende Erzählerin Hannelore Koch. Unwillkürlich fragt man sich dabei, warum Köhler es nicht bei den beiden Perspektiven des Buches belassen wollte.

Dennoch ist sein Ansatz, die Erzählung in einer Mischung aus Zeit- und Perspektivsprüngen von heute aus zu betrachten, pfiffig. Das gibt Raum, eigene Erfahrungen der vergangenen 20 oder 50 Jahre zu hinterfragen und holt Christa Wolfs Erzählung elegant ins Jahr 2013, ohne sie zu entstellen oder zu verfremden. Köhler bewegt sich damit andererseits aber auch vom Kern der Vorlage, der Liebe unter geteiltem Himmel, weg. Die Bühnenfassung läuft so ständig Gefahr, den roten Faden, den Christa Wolf einst webte, in der mehrfach geschachtelten Rückschau zu verlieren. In der Aneinanderreihung von Erinnerungen kommt die Tragik der Protagonisten, die bei Christa Wolf so herrlich mitfühlen lässt, auf der Bühne zu kurz. Zwar lässt Matthias Reichwald den abgeklärt liebenden, aber am DDR-Alltag verzweifelnden Manfred in all seiner Subtilität überzeugend lebendig werden. Doch plauzen ihm die starken Schlussworte Ritas am Ende so schroff wie stocksteife Phrasen in einem sozialistischen Zeitungsbericht entgegen: „Der Himmel teilt sich zu allererst.“

Die Besonderheit der historischen Situation, Ritas ehrliche Hoffnung auf eine neue Zeit zwischen Kriegsende und Mauerbau ist dabei kaum herausgearbeitet. So droht die Inszenierung immer wieder an ihrer Vorlage vorbei, ins Beliebige abzudriften. Am Ende ist das Spiel mit den Erinnerungen noch immer dasselbe, wie am Anfang, denn bloße Rückschau, auch reflektierende, lässt keinen Raum für Entwicklung nach vorn. Die Frage nach der richtigen Entscheidung zwar noch im Gedächtnis bleibt Christa Wolfs Erzählung letztlich doch präsenter als dieser Theaterabend.

„Der geteilte Himmel“, am Großen Haus Dresden, wieder am 21. und 30. Januar sowie am 07. Februar, jeweils 19.30 Uhr

Weiterlesen