Sternstunden der englischen Theaterszene

„Going Dark“ am Societaetstheater

Das Schöne an Theaterfestivals wie „szene: ENGLAND“ ist, dass sie Kunst aus anderen Ländern für ein paar Tage lang direkt nach Dresden holen. Und manchmal beschert das sogar wahrhafte Sternstunden: Sound & Fury’s „Going Dark“ jedenfalls kann getrost als Höhepunkt des diesjährigen szene-Festivals im Societaetstheater Dresden gehandelt werden.

Das gut einstündige Theaterstück entführt die Zuschauer zunächst in einen dunklen Bühnenraum. Dort nehmen sie – vom schummrigen Licht einer Taschenlampe begleitet – zunächst verwirrt Platz auf (zugegeben: recht unbequemen) Stühlen. Diese sind im Karee um die ebenerdige Bühne gestellt. Der Vorhang zum Vorraum schließt sich und kurz darauf lässt die Geräuschkulisse englischen Regen prasseln. Tom Espiner bestreitet diese gekonnt mit Klang und Lichteffekten ausstaffierte Stück anschließend im brillanten Alleingang.

Mit viel Hingabe spielt er den Wissenschaftler Max, der mit Leidenschaft in einem Planetarium arbeitet und sich alleinerziehend rührend um seinen Sohn Leo kümmert. Gekonnt wechseln die Szenen zwischen heimischen Familienplaudereien und seinen wissenschaftlichen Vorträgen unter projiziertem Sternenhimmel hin und her. Die Zuschauer sind in dem düstern Raum mittendrin in diesem philosophischen Spiel menschlicher Wahrnehmungen und tiefgründiger Erkenntnisse. „Wie weit kann der Mensch sehen?“, fragt Max in einem seiner Planetariumsvorträge zu Beginn des Stücks und erklärt, wie sich die Menschen seit Urzeiten am Polarstern orientiert haben. Noch ahnt man nicht, wie existenziell diese Frage später für ihn selbst, aber auch für die Zuschauer wird. Denn Max, der engagierte Vater und kluge Wissenschaftler, leidet an einer Krankheit, die ihn langsam erblinden lässt. Am Ende erkennt wer weder die Sterne noch seinen Sohn mehr mit bloßem Auge.

Es ist berührend und zauberhaft zugleich, wie Sound&Fury’s diese eigentlich tragische Geschichte im düsteren Bühnenraum mit Worten, Licht und Sounds für den Zuschauer gleichermaßen erlebbar machen. Eine Art von Theater, wie man sie in Dresden bislang kaum findet. Immer wieder wechseln die Szenen zwischen Privatleben und astronomischen Vorträgen hin und her. Der Zuschauer muss so ebenfalls abwechselnd in die Rollen des Beobachters und des Planetariumsgastes schlüpfen. Geräusche von lauten Autostraßen machen zwischendrin deutlich, wie Max mehr und mehr seinen Ohren vertrauen muss, weil sein Augenlicht schwindet. Auch wenn es ihm zunächst nicht gelingt, seinen Sohn – der übrigens nur via Tonband auftritt – über die Krankheit aufzuklären, weil er Angst hat, ihm damit die Unbeschwertheit zu rauben, machen seine Planetariumserklärungen deutlich, was gerade in ihm vorgeht. Max kleine Welt wird auf fantastische Weise mit dem großen Universum verknüpft, wenn er beispielsweise davon erzählt, dass die Wahrnehmung von Lichtspektren nur eine Illusion unseres Gehirns ist, dass alles, was unsere Augen sehen, im Kopf entsteht.

Hier hat die Tiefe des Stücks bereits einen Punkt erreicht, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Die Intensität des Spiels, die Unentrinnbarkeit der schummrigen Bühnenatmosphäre, die Philosophie des Universums, das alles zieht so in seinen Bann, dass man längst nicht mehr darüber nachdenkt, ob man jedes der englischen Worte versteht. Denn schon ist der Zuschauer hier auf raffinierte Weise ein Teil des Stücks geworden und versteht gleichsam, ohne zu hören. Max ist nahezu erblindet, als er erzählt, mit wie vielen Stundenkilometern die Erde um die Sonne saust. Orientierung ist angesichts dieser Geschwindigkeit kaum möglich. Und Max, der mit der Krankheit kurzzeitig die Orientierung im Leben zu verlieren droht, erzählt: „Es gibt keine Fixpunkte im Universum, man muss sich selbst einen solchen Punkt suchen.“ Als Max auch diesen Vortrag abbrechen muss, weil seine Krankheit ihm die weitere Arbeit nicht ermöglicht, hat er seinen Fixpunkt dennoch gefunden. Zu Hause erklärt er seinem Sohn Leo endlich, was es für ihn bedeutet, nun blind zu sein. Sein Sohn stellt viele Fragen, bis die beiden hinaus in den Garten gehen – und der Regen wieder zu prasseln beginnt.

Ein beeindruckender Theaterabend, der sich vor allem durch das herausragende Zusammenspiel von Gestaltung und Darstellung auszeichnet, geht zu Ende – er wird in Dresden mit minutenlangem Applaus belohnt. So faszinierend kann fremde Schauspielkunst sein …

Nicole Czerwinka

„Going Dark“ am Societaetstheater noch einmal am 19.4., 20 Uhr

Fotos: PR/Edmund Collier (rechts)

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Zurücklehnen ist nicht

„szene: ENGLAND“ am Societaetstheater

Das Societaetstheater Dresden verspricht mit seinem „szene: EUROPA“ Festival vom 11. bis 21. April 2013 zum siebten Mal einen theatralischen Tapetenwechsel mitten in der eigenen Stadt. Nach Frankreich (2007), Moldau (2008), der Schweiz (2009), Polen (2010), Schottland (2011) und dem Baltikum (2013) steht dabei dieses Mal – zum Zweiten in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau – die Theater- und Performancekunst Englands im Fokus.

„Wir haben beim Festival ‚szene: SCHOTTLAND‘ vor zwei Jahren gesehen, wie unheimlich breit gefächert die Theaterszene in England ist“, sagt Andreas Nattermann, der Geschäftsführer des Societaetstheaters. Schon vor zwei Jahren stand für die Organisatoren daher fest, dass sie anno 2013 englische Theatergruppen nach Dresden einladen. Neun sind es nun an der Zahl, die hier elf Tage lang Theater-, Performance-, Live-Art- und Gaming-Aufführungen aus ihrem Land präsentieren werden. Ähnlich wie die Schotten lassen auch die Engländer dabei auf humorvolle, freche und vor allem unkonventionelle Art die Grenzen zwischen Performance, Kunst, Tanz und klassischem Theater oft dahinschmelzen.

Wer hier jedoch auf eine stille Berieselung im Zuschauerraum hofft, der sollte lieber gleich zu Hause bleiben. Denn viele der Companies beziehen ihr Publikum zu gern in ihre Kunst mit ein. So kann es durchaus vorkommen, dass sich die Gäste später mit einem Radiogerät auf Dresdens Straßen wiederfinden oder selbst ein Manuskript lesen müssen. Schauspielerische Kenntnisse seien dabei nicht gefragt, wohl aber die Lust am Experiment, bestätigt Brit Magdon, die Künstlerische Leiterin des Societaetstheaters. Sie hat das vielfältige Programm, das „szene: ENGLAND“ Mitte April nach Dresden holt, selbstverständlich vorab am eigenen Leib getestet – und für gut befunden.

Die Engländer verstehen es, aus scheinbar unscheinbaren Situationen große Kunst entstehen zu lassen, wie beispielsweise die sechsstündige Theater-Performance „Quizoola“ der Forced Entertainment Companie beweist. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein Frage-Antwort-Spiel wie wir es von TV-Quizshows kennen. Dieses jedoch geht mit der Zeit so weit in die Tiefen der Privatsphäre, dass die Grenze zwischen Schauspiel und Realität immer diffuser wird. „Ich habe das Stück schon zweimal gesehen und fand es sehr interessant, welche Entwicklung sich da abzeichnet“; sagt Brit Magdon und stellt gleich klar: „Die Zuschauer können zwischendurch auch einen Kaffee trinken gehen und später wiederkommen, sie müssen nicht sechs Stunden am Stück zusehen.“

Englisch allerdings müssen sie für diese Performance wenigstens ein bisschen beherrschen. Ansonsten sind jedoch die meisten der 30 Aufführungen ins Deutsche übersetzt oder zumindest in einer deutschen Synopsis zusammengefasst worden, sodass niemand vor Sprachbarrieren zu bangen braucht. Und wer sich dennoch etwas vor Mitmachtheater und fremden Sprachen fürchtet, dem sei an dieser Stelle schon mal die Eröffnungsveranstaltung empfohlen. In dieser wird nämlich vor allem getanzt. Die Michael Clark Company wird ihr Stück „COME, BEEN AND GONE“ am 11. und 12. April (jeweils um 20 Uhr) im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau aufführen und das Festival damit einleiten. Wer dann noch kein Blut geleckt hat, der ist wirklich selber schuld …

Nicole Czerwinka

Linktipp: www.societaetstheater.de/szeneENGLAND.html

„szene: ENGLAND“ am Societaetstehater sowie im HELLERAU Europäisches Zentrum der Künste, 11. bis 21.4.2013, Karten gibt es jeweils für 15 (ermäßigt 7) Euro, zudem gilt das Angebot: fünf für vier, bei der es für vier gekaufte Tickets ein Fünftes gratis dazu gibt.

Fotos: Michael Clark Company (Jake Walters, li.) und Ant Hampton „Ok Ok“ (Richard Lahuis, re.)

 

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