Aufwühlend persönliche Akteneinsicht

„Meine Akte und ich“ am Kleinen Haus

Meter von Aktenordnern und vergilbten Papier, kleine weiße Wolken geschredderter Vergangenheit am Boden, ein Holztisch, zahlreiche Regale – diese Kulisse ist statisch und doch so lebendig. Matthias Schaller hat mit seiner atmosphärischen Bühnengestaltung am Kleinen Haus 3 ein symbolhaftes Bild für das Stasi-Stück „Meine Akte und ich“ der Dresdner Bürgerbühne gefunden, das den neun Darstellern dennoch genug Raum für Individualität lässt.

Denn Künstlichkeit und Schauspielerei sind ganz sicher nicht das Anliegen, das Regisseur Clemens Bechtel mit seiner Inszenierung verfolgt. Vielmehr geht es hier um die unbedingte Authentizität der neun Dresdner, die sehr persönlich von ihren Erfahrungen mit der Staatssicherheit, schwarz auf weiß festgehalten im Inhalt ihrer Stasiakten, erzählen. Diese neun Geschichten verweben sich zu einem gut recherchierten, behutsam präsentierten Teil der DDR-Geschichte – und sind so unterschiedlich wie ihre Protagonisten selbst.

Da ist zum Beispiel Ex-EOS-Lehrer Max Fischer, der zwar nicht unterschrieb, dafür aber bei der Akteneinsicht später feststellte, dass er von jenem Kollegen, den er einst bespitzeln sollte, selbst verraten wurde. Oder Catharina Laube, die als Studentin einer politisch interessierten Gruppe angehörte und nach der Verhaftung eines Kommilitonen stundenlang von der Staatssicherheit verhört wurde. Auch Michael Schlosser, der „Dresdner Ikarus“, der einst mit einem selbst gebauten Flugzeug aus der DDR flüchten wollte, aber vorher von der Stasi geschnappt wurde, gehört zum Ensemble dieses berührend-authentischen Dokumentationstheaters.

Bechtel hüllt diese neun Schicksale in eine bühnentaugliche Dramaturgie und erarbeitet mit den individuellen Erfahrungen der Protagonisten eine Art Rückschau, ohne zu verurteilen, anzuklagen oder zu bewerten. Hier geht es nicht um Opfer und Täter – beide Seiten stehen sich auf der Bühne sogar gegenüber –, sondern vielmehr um die Funktionsweise des DDR-Geheimdienstes, die anhand der Akteneinsicht exemplarisch ein Stück weit offengelegt werden kann. Am aufwühlendsten ist dabei die Szene, in der Jürgen Gottschalk (Foto: PR/Matthias Horn), Michael Schlosser und Gottfried Dutschke sich an den Häftlingsalltag in der DDR erinnern. Doch auch an anderen Stellen sind die Ängste der Vergangenheit dank der Nähe aller Darsteller zum Thema nahezu greifbar.

Dennoch wird der Versuch, bei der nachträglichen Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Diktatur Ursache und Wirkung in ihrem Zusammenhang darzustellen, immer Versuch bleiben – zu komplex ist das Thema, das sich der Nachvollziehbarkeit aus heutiger Sicht allzu gern entzieht. Es gehört zu den Stärken der Inszenierung, dass Bechtel auch das gar nicht zu verschleiern versucht, sondern die Protagonisten ganz für sich sprechen lässt. So ist das Stück mit Sicherheit eines der spannendsten, aber auch berührendsten im Spielplan der Dresdner Bürgerbühne.

Nicole Czerwinka

„Meine Akte“ am Kleinen Haus Dresden, wieder am 08.06., 18.06. und 30.06., jeweils 20 Uhr

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