Der Striezelmarkt und die Liebe

Eine Dresden-Geschichte zum 3. Advent

Große weiße Flocken rieselten auf die Erde nieder und überzogen die Buden auf dem Dresdner Striezelmarkt mit einer weißen Schneeschicht, die wie Puderzucker aussah. Ich hatte mir gerade einen rot kandierten Apfel gekauft und blieb nun vor dem großen Karussell stehen, auf dem die Kinder lachend im Kreis fuhren. Wie lange war es her, dass ich selbst einmal so unbeschwert und voller Freude den Ritt auf einem der blanken Karussell-Pferde genossen hatte?

Mehrmals musste meine Großmutter damals eine Fahrt für mich nachlösen, weil ich einfach noch nicht aufhören wollte. Ich erinnerte mich genau. Der Duft nach frisch gebackenen Kräppelchen, nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln zog über den Markt, genau wie früher. War das die Art von Erinnerungen, von denen der alte Mann gesprochen hatte, neulich im Pavillon am Waldschlösschen? Ich dachte oft an ihn und an den seltsamen Traum, in dem er mich in das Haus am Martin-Luther-Platz geführt hatte. Ich hatte dies alles in meinem Notizbuch niedergeschrieben, das ich nun immer wie einen Schatz bei mir trug. Jeden Abend hatte ich seither eine besonders schöne Erinnerung des Tages in dem Buch verewigt – und ich wusste auch schon, was ich vom heutigen Tag festhalten würde. Es würde das Karussell sein, der Duft von frisch gebrannten Mandeln und der Geschmack des saftigen, süß kandierten Apfels eben.

Ich lief an liebevoll geschmückten Ständen vorbei. Dicht gedrängt standen die Leute davor und bewunderten handgezogene Kerzen, Holzwichtel aus dem Erzgebirge und zarte, mundgeblasene Glaskugeln mit Wintermotiven. Auch ich ließ mich langsam treiben, steuerte dabei aber allmählich in Richtung Altmarktgalerie, denn ich hatte noch immer nicht alle Geschenke beisammen. Unter den Arkaden am Altmarkt sah ich einen Bettler sitzen. Er musste unheimlich frieren, denn es war wirklich kalt geworden in den vergangenen Tagen. Doch es schien ihm kaum etwas auszumachen. Er sah mit freundlichen Augen zu mir herauf, nicht fordernd, nicht bettelnd, ja nicht mal gequält. Gerade diese verblüffende Genügsamkeit in seinem Blick jedoch machte mir das Herz schwer. Ein trauriges Gefühl stieg in meiner Brust auf und ich griff in meiner Tasche nach dem Portemonnaie. Ich angelte ein Zwei-Euro-Stück heraus und legte es in den abgewetzten Hut des Bettlers hinein. „Frohe Weihnachten“, sagte ich schüchtern, als er mir daraufhin lächelnd zunickte. Es war ein sinnendes Lächeln aus braunen Augen, fast ein Strahlen, das sein raues Gesicht plötzlich aufhellte.

Die Situation hallte noch in mir nach, als ich wenig später im großen Buchladen mit den Augen die Regale scannte. Unwillkürlich fragte ich mich, welche Erinnerungen der Bettler wohl unter seinem dicken, verschlissenen Mantel hütete. Was hatte er erlebt, dass er hier auf der Straße sitzen und betteln musste, während ich fröhlich einkaufen ging? Ich schnappte mir ein Buch aus den Regalen, einen Roman, den ich meiner Mutter schenken wollte, und fasste einen Entschluss. Zielstrebig ging ich zur Kasse, bezahlte schnell und lief zurück auf den Striezelmarkt. Noch immer roch es hier verführerisch nach Kräppelchen und Mandeln. Ich wollte dem Bettler eine Freude machen, ihm auch einen roten, kandierten Apfel kaufen. Weil bald Weihnachten war. Doch nun sah ich, dass er verschwunden war. Die Ecke unter den Arkaden, wo er sein Lager aufgeschlagen hatte, war leer. Ich ärgerte mich ein wenig. Und ich fragte mich nun, ob ich hier einem dieser Betrüger aufgesessen war, von denen man sagte, dass sie sich als Bettler ausgaben, obwohl um die Ecke ein Mercedes parkte. Wobei ich nie begriffen hatte, wozu jemand so etwas tun sollte.

So ging ich weiter, lief – weil es im Schnee einmal so schön war – nun hinüber zum Neumarkt, wo rund um die Frauenkirche ein historischer Weihnachtsmarkt aufgebaut war. Die Buden waren hier mit Stoffmarkisen überdeckt, die Verkäufer trugen teils Kleidung, die ans 18. Jahrhundert erinnerte. Es war wirklich ein bisschen, als befände man sich in einer anderen Zeit, wenn man hier herüber schlenderte. Allmählich zwickte mich der Frost in die Nase und ich blieb vor einem Stand stehen, an dem heiße Schokolade verkauft wurde. Eine lange Menschenschlange hatte sich davor gebildet, in die ich mich geduldig wartend einreihte. Hier wurde heiße Schokolade noch mit Liebe zubereitet.

Plötzlich fiel mir vor der Frauenkirche ein schwarzer Schatten ins Auge. Ein Mann im schwarzen Mantel und mit einem schwarzen Zylinder huschte um die Eingangspforte. Ich hätte schwören können, dass es der seltsame Alte war, der mir neulich am Waldschlösschen begegnet war. Doch gerade, als ich zu ihm hinüberlaufen wollte, war er verschwunden.

„Was darf es denn sein, junge Frau? Darf ich Sie einladen?“, sagte jetzt eine freundliche Stimme neben mir. Ich sah mich um und blickte in die braunen, wachen Augen eines jungen Mannes. Er war hübsch, ungefähr in meinem Alter und sein spitzbübisches Lächeln erinnerte mich auf seltsame Weise an den Bettler von vorhin. Ich war so baff, dass ich ihn erst mal nur anstarrte, ohne ein Wort herauszubringen. „Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte er jetzt aufmerksam. Ich besann mich wieder auf das Hier und Jetzt und antwortete schnell: „Nein, kein Problem. Das ist sehr nett von Ihnen, eine heiße Schokolade bitte!“ Wieder lächelte der junge Mann, er musste wohl vor mir in der Reihe gestanden haben – und bestellte jetzt zwei Tassen mit Sahnehäubchen. Nachdem er gezahlt hatte, reichte er mir eine davon. „Gern geschehen. Ich bin übrigens Stefan. Darf ich fragen, wie Du heißt?“, sagte er dann. Ich nannte ihm meinen Namen und wir begannen ein Gespräch über Weihnachten, heiße Schokolade und die neuesten Kinofilme. Stefan entpuppte sich dabei als ein ebenso großer Filmliebhaber wie ich es war. Er erzählte mir, dass er in Dresden zur Schule gegangen war und jetzt Maschinenbau studierte. Ich nippte an meiner Schokolade, sah in seine Augen und wusste auf einmal, dass ich ihn wiedersehen wollte. Ihm schien es ähnlich zu gehen, denn als unsere Tassen sich langsam leerten, fragte er mich plötzlich, ob wir nicht mal gemeinsam ins Kino gehen wollten. Nun war ich diejenige, die lächelte.

Ich erinnerte mich an die Worte des alten Mannes und fragte mich, ob ich vorhin wirklich ihn an der Frauenkirche gesehen hatte. Eines jedoch schien mir in diesem Moment ganz klar: Ich hatte die Liebe gefunden. Und neben dem Karussell, dem kandiertem Apfel, den Düften auf dem Striezelmarkt und dem Bettler an der Galerie würde heute auch die Begegnung mit Stefan und der Geschmack von heißer Schokolade in meinem Erinnerungsbüchlein landen. Ich nickte auf seine Frage, reichte ihm meine leere Tasse und freute mich darauf, dies alles niederzuschreiben.

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